Corona: Was müssen Schachvereine in Niedersachsen beachten?

Blitzcup ja, Blitzcup nein? Hygienekonzept, Kontaktdatenerfassung, Masken? Was dürfen Schachvereine, was müssen sie? Und wenn ja, wie lange?
Es ist kompliziert. Einfacher wird es nicht durch die neue „Niedersächsische Verordnung zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2“ als vierte Änderung der Corona-Verordnung vom 30. Mai 2021. Verfallszeit: kurz. Am 3. September tritt sie außer Kraft. Schach-hellern.de hat daher zum Hörer gegriffen und beim Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung nachgefragt, wie denn eigentlich dieses Regelwerk Anwendung in unserem Sport finden kann.

Welche Ziele hat der folgende Text?
Der Auslöser war einfach: ein Turnier wurde abgesagt. Der Aufwand für eine coronagerechte Planung erschien in der Kürze der Zeit als zu groß. Zudem gab es Interpretationsbedarf hinsichtlich der neuen Regelung. Soll man nun tief in einer Exegese versinken oder ruft man einfach mal die Zuständigen an? Schach-hellern.de kam um beides nicht herum…
Der folgende Beitrag basiert auf dem Gesprächsprotoll mit dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (Pkt. 1-4), das im letzten Teil (Pkt. 4) mit eigenen Recherchen kommentiert wurde. Die Themen:
1. die Auswertung der neuen o.a. Corona-VO unter dem Aspekt „Sport in geschlossenen Räumen“ anhand der Leseversion des Landes Niedersachsen, 2. die Diskussion kontroverser Standpunkte, hier: Aerosolpartikel in geschlossenen Räumen, 3. Beispiele für Hygienekonzepte unterschiedlicher Schach-Landesverbände, die zu diametral entgegengesetzten Erkenntnissen gelangt sind, 4. Kurzer Abriss der Aerosol-Problematik am Beispiel des Positionspapiers der „Gesellschaft für Aerosolforschung“ (GAeF).

Das Gespräch mit dem Mitarbeiter des Ministeriums war insgesamt sehr konstruktiv. Ich hatte den Eindruck, dass der Gesprächspartner mit großem Interesse zuhörte. Die Beschreibung der von mir geschilderten Problemlage im Schach war offenbar genauso spannend wie die folgende Frage: „Warum ist Schach eigentlich Sport?“ „Nun, weil wir im Landessportbund sind!“

Die Corona-VO und ihre Auslegung

Generell und methodisch gilt für diesen Bericht das Quellengebot. Kurzum: ich würde ohne Quellenachweis nicht einmal behaupten, dass morgens die Sonne aufgeht. Und einleitend muss definiert werden, wovon überhaupt die Rede ist, denn erst dann können einige Aspekte der neuen Corona-VO richtig eingeordnet werden.

Grundsätzliche Frage: Ist Schach eine Kontaktsportart? Nein, Schach ist eine kontaktlose Sportart (Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) 2021, Deutscher Schachbund 2021: „Wir als Deutscher Schachbund zählen Schach zu den kontaktlosen Individualsporten“). Der DSB hat einen handfesten Grund: Öffnungen sind für Individualsportarten eher zu erwarten als für Kontaktsportarten.

Generelle Frage

Wie können wir als Schachverein Veranstaltungen planen und welche Aspekte der aktuellen Niedersächsischen Corona-VO sind dabei zu beachten?

Problembeschreibung

Schachsport ist sehr spezifisch und unterscheidet sich von anderen Sportarten in geschlossenen Räumen. In einer typischen Wettkampfsituation sitzen sich bei einer Tischbreite von 80-90 cm zwei Spieler gegenüber. In der Praxis wird häufig eine vornübergebeugte Haltung eingenommen. Ein Wettkampf dauert max. 6-7 Stunden. Der allwöchentliche Spiel- und Trainingsbetrieb ist kürzer. Ein Abstandsgebot von 1,5 m nach § 2 (2) der Corona-VO ist nicht einzuhalten. Der Abstand dürfte je nach Körperhaltung bei 60-80 cm liegen, kann bei Abrücken vom Tisch aber etwas größer sein. Lüftung ist in unserem Verein gewährleistet, bei warmer Witterung sogar dauerhaft.

1. Was ist mit „§ 16 Freizeit- und Amateursport in geschlossenen Räumen“?

Positiv: der besondere Charakter des Schachsports wurde von meinem Gesprächspartner gewürdigt. Es wurde deshalb darauf hingewiesen, dass auch beim Schach bei einer Turnierplanung und -durchführung die gestaffelten Inzidenzwerte in der Stadt entscheidend sind. Hierbei geht es nicht um die tagesaktuelle Inzidenz, vielmehr müssen die kritischen Werte an drei aufeinanderfolgenden Tagen nachgewiesen werden.

Noch wichtiger: In letzter Konsequenz muss das städtische Gesundheits-/Ordnungsamt entscheiden, wie generell und in Sonderfällen zu verfahren ist. Leichter macht das die Entscheidungsfindung nicht. Allerdings wird das sowohl in der VO als auch in der Pressemitteilung des Landes mit den größeren Handlungsspielräumen der Kommunen begründet, die sowohl eine Verschärfung ermöglichen als auch die Verfügung von Regeln eines niedrigeren Inzidenzwertes für bestimmte Bereiche ermöglichen. Diese Option gilt auch für auch den Amateursport (VO § 1 a Inzidenzwerte und Pressemitteilung, S. 2).

Ganz am Ende steht aber der Ausrichter. Deshalb war die Conclusio am Ende des Gesprächs wichtig: „Sie haben Hausrecht! Sie können jederzeit verschärfen, aber nicht mehr lockern als vorgesehen.“
Anders formuliert: wenn wir von Turnierteilnehmern das Tragen eines gelben Schlipses verlangen, ist das rechtens. Gut zu wissen.

Inzidenz 10-35

Wenn es um Sport in geschlossenen Räumen geht, ist bei einer Inzidenz von 10-35 quasi alles erlaubt. Priorität hat die Einhaltung des Abstandsregel gem. § 2 VO.

Hygienekonzept: muss vorliegen.
Dokumentation der Personendaten: nicht erforderlich.
Kontaktbeschränkungen: Die für den Inzidenzbereich gültigen Kontaktbeschränkungen müssen eingehalten werden: 10 Personen aus 10 Haushalten. Damit ist auch die Tischbelegung im Schach definiert. Doppelt Geimpfte und Genesene werden nicht eingerechnet.
Mund-/Nasenschutz: ist bis zum Tisch zu tragen und kann dann abgesetzt werden.

Konsequenzen für den Turnierbetrieb: a. Erstellung eines Hygienekonzepts, b. Einhaltung der o.a. Regeln.
Das schließt m.E. auch eine Statusermittlung der Teilnehmer (doppelt geimpft, genesen) ein. Ggf. kommt hier der Digitale Impfpass zum Einsatz. Pkt. b ist also erforderlich, um die Gesamtteilnehmerzahl  zu ermitteln.

Inzidenz 35-50

Hier sind schachliche Aktivitäten erlaubt, wenn ein Test vorgelegt werden kann. Der ist Pflicht! Hier habe ich leider nicht nachgefragt, um welchen Test es sich handelt. Ich habe aber darauf verwiesen, dass die Antigen-Selbsttests eigentlich ein Kohortentest sind (2-3-maliges Impfen einer Gruppe pro Woche, Beispiel: Schule),
Dokumentation der Kontaktdaten: ja!
Hygienekonzept: Selbstredend.
Abstand: 1,5 m (2 m bei einer kontaktarmen Sportart in geschlossenen Räumen oder 10 qm je Person). Auch hier war ich nicht gedankenschnell und habe deshalb nicht gefragt, was der Unterschied zwischen „kontaktlos“ und „kontaktarm“ ist. Nobody is perfect,
Mund-/Nasenschutz: ist bis zum Tisch zu tragen und kann dann abgesetzt werden.

Konsequenzen für den Turnierbetrieb: a. Erstellung eines Hygienekonzepts, b. Dokumentation Kontaktdaten, c. Beachtung der variablen Abstandsregelung, d. Einhaltung aller weiteren Regeln.

Und was steht in § 16 (2) der VO (Freizeit- und Amateursport in geschlossenen Räumen) im Falle einer 7-Tage-Inzidenz >35 (aber kleiner als 50)?
„Zulässig ist über die Sätze 1 und 2 hinaus auch die sportliche Betätigung in den Sportanlagen nach Satz 1 in beliebig großen Gruppen, soweit in diesen Personengruppen

  1. ausschließlich kontaktfreier Sport betrieben wird und
  2. ein Abstand zwischen den teilnehmenden Personen von jeweils 2 Metern eingehalten wird oder je teilnehmender Person eine Fläche von 10 Quadratmetern zur Verfügung steht“ (Hervorhebung durch den Verf.).

Das findet man auf Seite 27. Von Tests ist zumindest an dieser Stelle nicht die Rede. Dies wird allgemein in § 5 der VO definiert und schließt einen PCR-Test, einen PoC-Antigen-Test und Selbsttests ein. Auf jeden Fall wird hier erkennbar, welche Bedeutung die Einstufung als kontaktfreier Sport besitzt!

2. Das Aerosol-Problem

Ich kenne immerhin einen Schachfreund, der spätestens beim Absetzen des Mund-/Nasenschutzes am Schachbrett an die Decke gegangen wäre: „Ausgerechnet dort, wo es brandgefährlich wird, soll die Maske abgesetzt werden!“
Aus diesem Grund gab es in dem Gespräch mit dem Sachbearbeiter auch eine längere Debatte mit dem Schwerpunkt Aerosole. Die Gefahr, die von virentragenden Partikeln ausgeht, hielt mein Gesprächspartner bei Hallensportarten wie etwa Handball, wo es zu Berührungen und engem Kontakt kommt, allerdings für gefährlicher.
Mein Einwand: Aerosole bewegen sich zwar im Raum, bleiben aber in der gleichen Höhe, wenn sie nicht durch Luftumwälzungsanlagen verwirbelt werden (was noch gefährlicher ist). Angeführt wurde von mir das Liftbeispiel (Quelle: Gerhard Scheuch, GAeF): Ein infizierter Mensch kann mehrere hunderttausend Viren pro Minute ausatmen. In einem Aufzug mit 2 Kubikmeter Fassungsvermögen sind innerhalb weniger Minuten rund 400.000 Viren – 200 Viren sind also in jedem Liter Luft. Zwei große Atemzüge sind in etwa zwei Liter, das wären also 400 Viren. 400 Viren würden für eine Infektion reichen. Allerdings räumte ich ein, dass bei größerem Raumvolumen eine entsprechende Verdünnung eintritt und häufiges Lüften zu einer weiteren Verbesserung der Situation beiträgt.

Mein Eindruck: der Amateursport in geschlossenen Räumen wird durch Regelungen definiert, die denen in der Gastronomie ähneln. Auch bei kulturellen Veranstaltungen gibt es vergleichbare Bestimmungen. Dort sind sie plausibel. Wenn z.B. bei einem Konzert die Abstände durch die Organisation der freien Sitzplätze bestimmt werden, ist der Verzicht auf einen Mund-/Nasenschutz eher nachvollziehbar als in einer Situation, in der sich zwei Menschen vis-à-vis mehrere Stunden am Schachbrett gegenübersitzen.

Fazit: Hier entstand in dem Gespräch der einzige Dissens, da das Aerosolproblem ein entscheidender Faktor für die Risikobewertung von Veranstaltungen in geschlossenen Räumen ist.

3. Hygienekonzepte unterschiedlicher Schach-Landesverbände

Dass wir in der Ministerpräsidentenkonferenz monatelang ein Hin und Her erlebt haben, das kaum als Blaupause für eine effektive Pandemiebekämpfung geeignet ist, muss man an dieser Stelle nicht weiter erläutern. Ich habe in dem Gespräch noch einmal darauf hingewiesen, dass sich dieses Föderalismusproblem auch im Schach widerspiegelt. Deshalb habe ich die folgenden Passagen wortwörtlich zitiert.

Hygienekonzept Schachbund Nordrhein-Westfalen (undatiert, wortwörtlich zitiert):
III: Mund-Nasenbedeckung
1. Während des Spielens am Brett und damit der Sportausübung ist zurzeit keine Mund- Nasenbedeckung erforderlich.
2. Beim Verlassen des Schachbrettes (z. B. Toilettengang) muss eine Mund- Nasenbedeckung getragen werden.
IV: Abstände
1. Der Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen den Personen und Brettern muss eingehalten werden. Dies gilt zurzeit für alle Spieler, die nicht direkt gegeneinander spielen.

Hygienekonzept Berliner Schachbund (undatiert, wortwörtlich zitiert):
10. Das korrekte Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (oder eines ausreichend großen Visiers) ist verbindlich. Für diese Ausrüstung sind die Spieler selbst zuständig.
11. Das Spiellokal ist bei jedem Wechsel der Trainingsgruppe sowie mindestens einmal alle zwanzig Minuten für mindestens zwei Minuten gründlich zu lüften.
12. Zuschauer sind verboten.
16. Am Brett haben sich beide Spieler so zu verhalten, dass sie auch den erforderlichen Abstand haben. Dabei hat bei Bedarf der nicht am Zug befindliche Spieler auszuweichen.

Natürlich war nicht zu erwarten, dass mein Gesprächspartner explizit die extrem entgegengesetzten Konzepte kommentiert. Und so endete das Gespräch mit dem Hinweis, dass man für die vereinsinterne Informationsarbeit auch die Schaubilder verwenden kann, die die neue Corona-VO graphisch anschaulicher machen sollen. Hier sind sie:

Quelle: Land Niedersachsen
Quelle: Land Niedersachsen

Nachlese: das Hygienekonzept des Schach-Bezirksverbands München e.V.

Interessant war am Folgetag  das Ergebnis einer Recherche. Dabei stieß ich auf das „Schutz- und Hygienekonzept für den Spielbetrieb im Schach“ (Stand: 13.6.2021). Hier hat der Schach-Bezirksverband München e.V. in methodischer Hinsicht Vorbildliches geleistet. Bereits recht früh wurde eine Corona-Kontaktgruppe gebildet. Das aktuelle Ergebnis dieser Arbeit weist im 1. Kapitel des Konzeptpapiers sehr gründlich die Rechtsgrundlagen und Referenzen aus und geht im 3. Kapitel in medias res. Ins Auge sticht dabei die Entkoppelung von Inzidenzwerten.

3 (4), S. 8: Einhaltung der Mindestabstandsregel. Generell gilt die 1.5 m-Regel, aber: „Zwei Spieler, die am gleichen Brett gegeneinander spielen, können den Mindestabstand von 1,5 m unterschreiten, müssen aber für einen größtmöglichen Abstand voneinander sorgen (zum Beispiel durch die Wahl entsprechender Sitzhaltungen).

3 (5, b und c), S. 8 f.: Persönliche Hygienemaßnahmen: „Mit Ausnahme derjenigen Zeit, in welcher die Teilnehmer am Brett sitzen, besteht ab dem Zutritt ins Spiellokal bis zum Verlassen desselben die Verpflichtung, eine FFP2-Maske zu tragen. Für Personen zwischen dem 6. und 16. Geburtstag genügt eine medizinische Gesichtsmaske. Dies gilt unter anderem, wenn der Teilnehmer im Spiellokal steht oder sich bewegt. Am Brett sitzend ist das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung nicht zwingend erforderlich. Wegen der Unterschreitung des Mindestabstandes von 1,5m empfiehlt der BSB jedoch auch am Brett das Tragen einer Mund-Nase- Bedeckung oder eines Gesichtsvisiers“ (Hervorhebung durch den Verfasser).

Das Münchener Modell ist sozusagen ein moderater Kompromiss, der sich zwischen dem NRW- und dem Berliner Modell verortet. Nur eins sollte den Verfassern in Berlin und München klar sein: wenn etwas evidenz-basiert ist, dann ist es die relative Wirkungslosigkeit eines Gesichtsvisiers (GAeF, S. 5 und 29). Visiere werden im medizinischen Bereich neben dem Mund-/Nasenschutz zusätzlich eingesetzt, um Tröpfcheninfektionen über die Schleimhäute der Augen zu verhindern. Allerdings räumt die GAeF ein, dass Visiere bei großen Tröpfchen eine gewisse Schutzfunktion besitzen (GAeF, S. 16).

Unter Strich steht Folgendes:

  • Die neue Corona-VO gibt einen zeitlich befristeten Rahmen für Veranstaltungen aller Art vor, ist aber wegen der permanenten Querverweise nur schwer lesbar, was ich während meines Gespräch moniert habe. Aber das ist wohl dem Prinzip der Rechtssicherheit geschuldet.
  • Für den Sport in geschlossenen Räume bietet die VO mehr Freiheiten als erwartet. Die sind für Schach als kontaktlosem Sport sogar noch größer.
  • Nutzt man die Volltextsuche, so findet man in der Niedersächsischen VO das Wort „Aerosol“ nicht ein einzige Mal.
  • Im Großen und Ganzen ist das Meiste in der VO aber nachvollziehbar. Aufgrund der befristeten Gültigkeit und Inzidenzstaffelung ist die VO aber keine Grundlage, um Schachturniere für einen längeren Zeitraum zu planen. Am Ende bieten dann wohl nur eine ständige Anpassungsarbeit und der Gang zu den lokalen Behörden eine Alternative.
  • Am Ende bietet das Hausrecht einen gewissen Trost, denn es gibt den Veranstaltern eines Schach-Events einen großen Handlungsspielraum: Verschärfen geht immer! Das Hauptproblem bleibt angesichts des Aerosol-Problems allerdings das Tragen des Mund-/Nasenschutzes.

4. Das Positionspapier der „Gesellschaft für Aerosolforschung“

Das Paper der GAeF habe ich aus zwei Gründen ausgewählt. Zum einen haben es einige hundert Wissenschaftler unterzeichnet, zum anderen repräsentiert es die Position vieler renommierter Universitäten und Forschungseinrichtungen. Man traut also dieser Expertise oder man wendet sich ab.
Sehr häufig hört man von Kritikern der Corona-Maßnahmen, dass unangemessene Entscheidungen getroffen wurden, obwohl man gar nicht wisse, wo die Menschen sich anstecken. Die GAeF sieht das anders. Zwar ist die GAeF gegen einige Corona-Maßnahmen, etwa das Verbot von Zusammenkünften im Freien, das Abriegeln von Innenstädten und Ausflugszielen oder das Verbot von Spaziergängen auf Promenaden. Aber schenkt man den Aerosol-Experten Glauben, dann finden die Infektionen woanders statt – und zwar nur drinnen, in Innenräumen, also in den geschlossenen Räumen, in denen sich auch Schachspieler aufhalten.

Verantwortlich für eine Infektion sind neben den Tröpfchen (Singen, Husten, Niesen etc.; schnelleres Sinkverhalten) die Aerosolpartikel. Ein Aerosol ist vereinfacht gesagt das Gemisch aus Luft und Partikeln in einem Raum. Milliarden von Partikel können nachgewiesen werden, aber die meisten sind nicht gefährlich. Dies sind die Partikel des SARS-Virus, die sich in der ausgeatmeten Atemluft eines Infizierten befinden (GAeF, S. 8 f.). Größere Partikel sinken zu Boden, kleinere verharren in einer Art von Schwebezustand, wenn kein intensiver Luftaustausch stattfindet. Im Extremfall sitzen oder stehen Menschen dann in einer unsichtbaren Wolke und atmen die Partikel ein. Aber in der Regel gibt es Luftbewegungen, die die Partikel zunehmend im Raum verteilen. Und das ist nicht gut.

In einer direkten Kontaktsituation werden mit zunehmendem Abstand die ausgeatmeten Virenpartikel verdünnt, das Risiko sinkt. Aber durch die Verteilung der Partikel steigt das Gefahrenpotential in Abhängigkeit von der Verweildauer in einem Raum.
Masken helfen, denn Partikel, denen Feuchtigkeit anhaftet, werden größer und können so zum Teil auch von einfachen Masken zurückgehalten werden. Allerdings nicht lange, denn verlieren die Virenpartikel ihre Feuchtigkeit, werden kleiner und man braucht nun Masken vom Typ FFP2, N95 oder KN95, um sie herauszufiltern (GAeF, S. 4).

Visiere sind wie bereits erwähnt deshalb nicht nützlich, weil die Partikel um sie herumströmen können (GAeF, S. 5). Denn aufgrund der Luftbewegung bewegen sich die kleinen Partikel im Raum, obwohl sie erst nach Stunden auf den Boden gesunken sind.
Überhaupt kann man das Thema „Aerosolpartikel“ mit filmischen Mittel gut darstellen (TU Berlin, 2021) – beeindruckende Bilder einer tödlichen Gefahr.
Interessant sind die im Experiment nachgewiesenen Sinkzeiten: ein 100 µm großes Teilchen benötigt 3,1 sec, um aus einer Höhe von 1 m zu Boden zu sinken, ein 0,1 µm kleines Teilchen nimmt sich über 300 Stunden Zeit, Aerosolpartikel < 0,4 µm bleiben immer 39 Stunden in der Luft! (GAeF, S. 12).

Aerosolübertragungen finden im Außenbereich laut GAeF so gut wie nie statt, die Partikel werden sozusagen in alle Winde verstreut. Dieser Effekt tritt in Innenräumen weitgehend ein, wenn man durch Stoß- und Querlüften nachhilft. Wann und wie oft gelüftet werden soll, hängt natürlich von der Raumgröße und der Anzahl der Personen ab.
Oft werden CO2-Messgeräte für die Ermittlung des Zeitraums empfohlen. Allerdings müsste man im laufenden Schachbetrieb ein Gerät einsetzen, dessen Warnton dauerhaft abgestellt werden kann (was dem Sinn der Sache nicht entspricht). In diesem Fall müsste man das Display regelmäßig ablesen, um einen kritischen Wert zu erkennen. Ein solches Gerät habe ich bislang nicht gefunden. Man kann den Warnton abschalten, aber nicht verhindern.
Auf Luftreiniger möchte ich nicht eingehen, denn die sind allein aus finanziellen Gründe zunächst keine Alternativen, zumal sie die Strategie des Lüftens nicht vollständig ersetzen können. Auch auf die Notwendigkeit sonstiger hygienischer Maßnahmen muss nicht gesondert hingewiesen werden.


Das waren elementare Basics zum Thema „Aerosole“. Sie sollen zeigen, dass man das Thema unbedingt erst nehmen muss.
„Ein viel diskutierter Mechanismus der Virusinfektion mit Atemwegsbeteiligung ist das reine Atmen. Da wir 24 Stunden am Tag atmen und ein Erwachsener dabei zwischen 10 und 25 m³ Luft ein- und wieder ausatmet [W. Hinds, Aerosol Technology: Properties, Behavior, and Measurement of Airborne Particles, New York: Wiley, 1999], genügen schon geringe Aerosolkonzentrationen bei der Freisetzung, um erhebliche Mengen von potenziell mit Viren beladenen Aerosolpartikeln in die Umwelt abzugeben (…) In derzeit laufenden Untersuchungen wurde festgestellt, dass bei einer Atemwegsinfektion die Anzahl der exhalierten Partikel dramatisch auf Werte von mehreren zig- bis hunderttausend Partikeln pro Liter Luft ansteigen kann. Dies geschieht aber nicht notwendigerweise bei jeder infizierten Person. Nach Abklingen des Infektes atmeten diese dann wieder nur wenige Partikel pro Liter Luft aus“ (GAeF, S. 14 f.).

Aerosole spielen bei der Übertragung des SARS-CoV-2-Virus also eine entscheidende Rolle. Schach-hellern.de hat bereits am 18.4.2020 auf dieses Problem hingewiesen, auch das RKI macht nachdrücklich klar, dass Aerosolpartikel  aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften eine prominente Rolle bei der Übertragung spielen: „Beim Aufenthalt in Räumen kann sich die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als 1,5 m erhöhen, insbesondere wenn sie klein und schlecht belüftet sind. Längere Aufenthaltszeiten und besonders tiefes oder häufiges Einatmen exponierter Personen erhöhen die Inhalationsdosis. Durch die Anreicherung und Verteilung der Aerosole im Raum ist das Einhalten des Mindestabstandes zur Infektionsprävention ggf. nicht mehr ausreichend. Auch wenn das Tragen eng anliegender Masken und Frischluftzufuhr das Risiko senken kann, kann es bei (stunden-)langen Aufenthalten in einem Raum mit infektiösen Aerosolen u.U. dennoch zu relevanten Inhalationsdosen kommen, wie z.B. in Büroräumen“ (Hervorhebung durch den Verf.)

Wenn die Abstandsregeln also relativiert werden müssen, so gilt dies erst recht für die spezifischen Bedingungen eines Schachwettkampfs. Der ist offiziell zwar kontaktlos, aber aufgrund der großen Nähe der Spieler zueinander könnte man durchaus von einem Kontaktsport reden.

Allerdings müssen auch andere Entwicklungen ins Auge gefasst werden. Sie entschärfen die Situation mutmaßlich.
Die Inzidenzen sind aktuell niedrig, auch wenn die Infektionszahlen längst wieder im mittleren vierstelligen Bereich angekommen sind. Zudem ist trotz der Verlangsamung des Impftempos bis Anfang Oktober zu erwarten, dass 15–20 Mio. Menschen zusätzlich geimpft ein werden. In diesem Fall wären 70 Mio. Menschen zumindest einfach geimpft. Und wenn man die Zahlen extrapoliert, könnten es 63 Mio. vollständig Geimpfte sein. Mit solchen Spekulationen gibt sich die GAeF natürlich nicht ab – da ist auch nicht ihr Job. Dass die Möglichkeiten mit zunehmenden Impfzahlen aber umfangreicher werden, steht fest.

Zu einer erheblichen Minderung des Risikos könnten auch weitere neue virologische Fakten beitragen. So ist das Risiko einer Ansteckung von Ungeimpften zwar ‚nur‘ dreimal so groß wie bei doppelt Geimpften, aber dafür scheint die Gefahr, dass doppelt Geimpfte im Falle eine Impfdurchbruchs erneut das Infektionsgeschehen treiben, nicht so groß zu sein: die Dauer der Infektiosität soll nur 24 Stunden betragen, so die Aussage der Virologin Helga Rübsamen-Schaeff (bei Markus Lanz, 4.8.2021).

Nicht ganz so erfreulich fiel am 4.8. der Kommentar des Deutschen Ärzteblattes aus, der die Prävalenzzahlen zwar bestätigte, aber auf ein signifikantes Nachlassen der Impfstoffwirkung verwies. Wir wissen zwar immer mehr, aber längst nicht alles.

Fazit

Was Herbst und Winter bringen, wissen wir nicht. Auch die Gefährlichkeit neuer Mutanten bleibt spekulativ. Aber etwas hat man gelernt: in regelmäßigen Abständen geschieht Unerwartetes. Für das Turniergeschehen im Schach bedeutet die aktuell entspannte Lage aber nicht, dass man die Zügel schleifen lassen kann.
Ich denke, dass man zwischen Mannschaftswettbewerben und Trainingsabenden unterscheiden muss. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass im Mannschaftswettbewerb Masken, Lüftung und Abstand für gemischte Teilnehmer (Geimpfte, Genesene, Ungeimpfte) vernünftige und begründbare Regelungen bleiben. Hat man es mit 16 geimpften Spieler zu tun, sollte man flexibel reagieren.
Entscheidet man sich bei Mannschaftswettbewerben für die AHA-plus-Regeln und/oder flexible Modelle, besteht auch an den Trainingsabenden die Notwendigkeit, sich über den Status der Teilnehmer zu informieren. Bei Geimpften ist das eine einmalige Aktion. Bei Genesenen ist das nicht ganz einfach. Die vorzulegende Bescheinigung (u.a. PCR-Test) muss mindestens 28 Tage alt sein, aber der Status erlischt nach sechs Monaten. Man beginnt ein Turnier als Genesener, aber mittendrin ist man keiner mehr. Aber wer soll diese Daten erheben und verwalten? Wie lange die unterschiedlichen Impfungen wirken, wissen wir auch noch nicht.
Wenn man bei der Prüfung feststellt, dass bei einem Vereinsblitzturnier  ausschließlich doppelt Geimpfte und Genesene antreten, könnte unter normalen Bedingungen Schach gespielt – aber die regelmäßige Lüftung sollte auch in diesem Fall und in warmen Zeiten nicht so schnell aus den Schachvereinen verschwinden. Trotzdem: Der Planungsaufwand für die Ehrenamtlichen wird keineswegs geringer. Und überhaupt: was macht man mit den Kiebitzen, die plötzlich auftauchen?
Vermutlich wird sich an den Vereinsabenden auf informelle Weise eine Vereinskultur entwickeln, die nicht steuerbar ist. Sie wird irgendwo zwischen freiwilligen und solidarischen Übereinkünften und einer laissez-faire-Einstellung angesiedelt sein.

Das Fazit wurde überarbeitet, die erste Fassung war nicht differenziert genug. Dieser Artikel ersetzt keine virologische Fachberatung. Ich habe quellenbasiert versucht, einige Aspekte des Themas zu verdeutlichen. Die Corona-VO des Landes bleibt dabei allein schon aus rechtlichen Gründen eine rechtssichere Orientierungshilfe. Sie kann aber nicht jeden Sonderfall abdecken. So tragen letztlich die Vereine die Verantwortung.

Quellen

  • Hörmann, Rücker (2021): Schach als Mitglied der Gruppe der Individualsportarten im DOSB: https://www.schachbund.de/files/downloads/DOSB-Unterstuetzungsschreiben_DSB-11032021.pdf
  • Deutscher Schachbund (2021): Schach ist keine Kontaktsportart: https://www.schachbund.de/news/dosb-schach-ist-keine-kontaktsportart.html
  • Corona-Vorschriften – Niedersächsische Corona-Verordnung: Aktuelle Corona-Verordnung – gültig seit 28. Juli 2021. https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/vorschriften-der-landesregierung-185856.html
  • Pressemitteilung zur neuen Corona-Verordnung, ebd.
  • Hygienekonzept Schachbund Nordrhein-Westfalen (o.A., O. D.): https://www.schach-nrw.de/images/2020%20download/hygienekonzept%20sbnrw.pdf
  • Hygienekonzept Berliner Schachverband (o.A., o.D.): https://www.berlinerschachverband.de/files/bsv/images/2020/06/Hygiene.pdf
  • Schutz- und Hygienekonzept für den Spielbetrieb im Schach (PDF): www.schachbezirks-muenchen.de
  • Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF) (2020): Positionspapier der Gesellschaft für Aerosolforschung zum Verständnis der Rolle von Aerosolpartikeln beim SARS-CoV-2 Infektionsgeschehen: https://www.info.gaef.de/positionspapier
  • Offener Brief Ansteckungsgefahren aus Aerosolwissenschaftlicher Perspektive: http://docs.dpaq.de/17532-offener_brief_aerosolwissenschaftler.pdf
  • Prof. Dr. Martin Kriegel (2021): COVID-19 – Ausbreitung von Aerosolen im Raum, Video des Hermann-Rietschel-Instituts der TU Berlin (Länge 1 h 13 min): https://www.youtube.com/watch?v=zZ6pMkgGZv8
  • Alford (2021): Coronavirus infections three times lower in double vaccinated people – REACT (Imperial College London): https://www.imperial.ac.uk/news/227713/coronavirus-infections-three-times-lower-double/
  • Deutsches Ärzteblat (2021): England: Coronainfektionen bei doppelt geimpften Personen 3 Mal niedriger. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/126136/England-Coronainfektionen-bei-doppelt-geimpften-Personen-3-Mal-niedriger.