Digitales Schach – der Knockout für Vereine?

Schwerpunkt des Monatsheftes Nr. 2 des „kulturellen Schachmagazins“ KARL ist die Digitalisierung. Gezeichnet wird ein düsteres Bild: Draußen im Land gibt es aufgrund der Corona-Pandemie und dank des Erfolges der NETFLIX-Serie „Damengambit“ zig Millionen, die Schach lernen oder ihre Spielstärke verbessern wollen. Nur in die Schachvereine gehen sie nicht. Sie sind auf YouTube und anderen Plattformen wie TwitchTV unterwegs – und werden dort bestens bedient. Schach-Hellern.de hat sich ein wenig umgeschaut – und war beeindruckt.

Das Vereinsschach in der Krise?

Es gibt im neuen KARl eine Reihe lesenswerter Beiträge, zum Beispiel von GM Mihail Marin, der sich mit normalem Schach am Brett und Online-Schach beschäftigt. Stefan Löffler beschreibt die Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse durch das Online-Schach, besonders in Hinblick auf die Play Magnus-Gruppe und Chess.com.
Gefesselt wurde der Rezensent aber von einem anderen Beitrag. „Von der Kunst, eine Marke zu kreieren“ lautet die Überschrift des Artikels von KARL-Autor Dr. Franz Jürgen Schell. Und die Unterzeile zeigt, wohin das Ganze führen soll: „Streamer-Angriff und YouTube-Variante – der Siegeszug des Schachs im Netz.“

Schell verfolgt die Streamer-Szene seit geraumer Zeit, seine Recherchen punkten mit großer Sachkenntnis und einer breiten Analyse der Angebote – egal, ob es sich um deutsche oder englischsprachige Angebote dreht. Dabei wertet Schell nicht nur die ökonomischen Aspekte des Themas aus, sondern überzeugt auch stilistisch durch sehr einfühlsame und psychologisch ausschlussreiche Einblicke in eine Szene, die längst nicht mehr im Schatten steht.
Digitales Schach ist kein Nischenphänomen, sondern ein HiTec-Spektakel, bei dem es nicht nur um Schach geht, sondern auch darum, wie man den Fight auf den 64 Feldern einer offenbar hochmotivierten Zielgruppe am besten verkauft. Kein Wunder, dass Schell das Zusammenspiel von Charisma, Lockerheit und Kompetenz bei Jan Gustafsson besonders würdigt. Der deutsche Großmeister kommentiert online: bei chess24.com und in Beiträgen für seinen TwitchTV-Channel „JanistanTV“. Gustafsson ist der bekannteste und wohl auch erfolgreichste deutscher Streamer. Und er ist eine Marke!

Andere bekannte Online-Stars sind IM Georgios Souleidis („The Big Greek“) und GM Niklas Huschenbeth. Souleidis ist nicht nur Schachprofi. Er hat auch Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert und weiß genau, wie man eine Zielgruppe erreicht. Und zwar so erfolgreich, dass er seinen alten Job an den Nagel gehängt hat. Dass der digitale Schachboom wieder verschwinden wird, glaubt er nicht. Im Gegenteil. Schell bilanziert, dass der Boom „im seltsamen Gegensatz zum sinkenden Interesse am Vereinsschach“ steht. Das ist wohl ironisch gemeint, denn seltsam ist daran nichts.

Sinkende Mitgliederzahlen

Erkennen kann man dies, wenn man sich die Mitgliederzahlen im Deutschen Schachbund anschaut. Die sahen gut aus. Während man 2020 noch 93.000 Mitglieder verzeichnete, waren es im zweiten Pandemiejahr nur noch 89.300 und 2022 sank die Zahl gar auf 87.800.
Der DSB macht besonders „die Verluste bei den Kindern und Jugendlichen bis 14 Jahren“ für diese Entwicklung verantwortlich, DFB-Präsident Ulrich Krause weiß aber auch, dass „vor allem diejenigen Vereine weniger Probleme haben, die digitale Angebote für ihre Mitglieder und interessierte Neulinge geschaffen haben.“

Der DSB will deshalb nicht in die Zuschauerrolle rutschen und verweist auf die Aktion „Schach dem Virus“, die auf der Website des Verbandes viel Raum erhalten hat und die Eigeninitiativen der Vereine vorstellt. Die Referenzadressen stammen aber überwiegend aus dem Jahr 2020 und so weiß man nicht, was auf den Projekten geworden ist. Immerhin: Mit „SchachdeutschlandTV“ ist der DSB nach verschlafenem Start im Januar 2021 mit einem eigenen Online-Angebot an den Start gegangen. Spät, aber nicht zu spät.

Schach auf YouTube

„The Big Greek“ mischt in Deutschland die Szene auf

Doch was macht die Konkurrenz des Vereinsschachs eigentlich so attraktiv?
Um das herauszufinden, habe ich mir einen Beitrag von „The Big Greek“ angeschaut (3). Am 4.8.2022 untersuchte der IM eine Partie von der Schacholympiade 2022, und zwar die von GM Anton Smirnov (ELO 2600) gegen Noch-Weltmeister Magnus Carlsen (ELO 2864).
Carlsen verteidigte sich à la Pirc und prompt wurde es eine Partie mit heterogenen Rochaden. Souleidis nahm sich eine halbe Stunde Zeit, um dem Zuschauer zu erklären, dass es in diesem Stellungstyp darum geht, den Angriff so schnell wie möglich zu forcieren, es aber auch wichtig ist, an den entscheidenden Schnittstellen notwendige Verteidigungszüge einzubauen.

Screenshot

Das war clever gemacht. Didaktisch umschiffte der IM alle Stellungsprobleme, die für fortgeschrittene Spieler ab ELO 2000 interessant sind (Eröffnungstheorie, Referenzpartien). Stattdessen erklärte er mit verblüffender Leichtigkeit alle grundsätzlichen Stellungsmerkmale, die für Spieler im Bereich ELO 1700-1900 belangreich sind. Ist für Schwarz b5-b4 und ein Angriff auf a2 aussichtsreich? Welche Rolle spielt der weiße h-Bauer? Ist die Öffnung der h-Linie das einzige Ziel oder kommt gar h5-h6 in Frage?
Nach 30 Minuten hatte man tatsächlich das Gefühl, in die intimen Geheimnisse der Stellung vorgedrungen zu sein. Und Souleidis trug alle locker und sachlich vor, ohne krampfige Witzeleien und auch ohne pädagogischen Zeigefinger. Als ich zwei Tage später wieder bei YouTube nachschaute, hatte „The Big Greek“ bereits drei neue Videos produziert…

Die YouTube-Szene boomt in Deutschland

IM Georgios Souleidis ist mit 114.000 Abonnenten und 26 Mio. Aufrufen ein Top-Star der der deutschen Szene. Und Schell lässt in seinem Artikel nicht unerwähnt, dass „The Big Greek“ mittlerweile von seinen Webpräsenzen gut lebt. 1-2 €/1000 Klicks zahlt YouTube – da muss man mit täglich neuen Videos am Ball bleiben.

Mithalten kann da nur GM Niklas Huschenbeth mit seiner Plattform „GMHuschenbeth“. Der GM ist seit 2012 im Web unterwegs, hat <100.000 Abonnenten, aber 27 Mio. Aufrufe. Huschenbeth analysiert Partien, aber der GM ist auch wegen seiner Streamer Battles beliebt: Er spielt 3min-Partien und erklärt sie gleichzeitig. Der Spaßfaktor ist hoch, didaktisch gefällt mir Souleidis besser.

Ein kleiner Fisch ist laut Schell dagegen der ehemalige Zweitligaspieler Garry Leusch. Sein YouTube-Channel „Gunny’s Chessalyze“ hat lediglich 2.500 Abonnenten, aber für Leusch steht an erster Stelle der Spaß. Leusch ist einer der wenigen, die ihre Beiträge selbst filmen, schneiden und vertonen. In einem seiner Videos sieht man im Hintergrund das Poster von „Damengambit“. Das passt, denn der gemütliche Leusch orientiert sich daran, den Zuschauern gute Unterhaltung zu bieten. So wie Netflix. Nur verdient er weniger als der Streaminganbieter. Trotzdem betreibt Leusch bei TWITCH eine digitale Schachkneipe, „GunnysWorld“, über die Schell einen netten Artikel in „Perlen vom Bodensee“ geschrieben hat. Beide Kanäle von Garry Leusch kann der Rezensent guten Gewissens empfehlen.

Wer gehört  international
zu den Top-Verdienern?

Schell zählt drei Schach-Influencer auf: den New Yorker IM Levy Rozman, der mit „GothamChess“ eine Reichweite von 1,47 Mio. Abonnenten hat und damit den „Agadmator‘ Chess Channel“ von Antonio Radić abgelöst hat (1,23 Mio.). Dafür hat Radić (ELO ca. 2000) mit 580:380 Mio. die Nase bei den Aufrufen vorn. Aktuell liegt Rozman bereits bei 437 Mio. Aufrufen. Dritter im Bunde ist GM Hikaru Nakamura mit „GM Hikaru“, der auf 1,26 Mio. Abonnenten (laut YouTube 1,33) kommt (330 Mio. Aufrufe, Channel Info YouTube: 357 Mio.).

Nakamura, das ist bekannt, verdient mit seinem Channel mehr Geld als bei seinen Schachturnieren. Schell geht sogar davon aus, dass die drei Leader pro Monat im fünfstelligen Bereich verdienen. Und dies ohne die Einnahmen auf TwitchTV, die Rozman und Nakamura mindestens 20.000 Dollar/Monat zusätzlich einbringen. Zahlen, von denen deutsche Schach-Influencer nur träumen dürfen.
Trotzdem: den Rezensenten hat die ADSH-verdächtige Performance von IM Rozman nicht beeindruckt, auch nicht die hyper-dramatischen Thumbnails seiner Beiträge. Wer in vier Minuten mit überschnappender Stimme und irrem Tempo durch die Partie Megaranto-Carlsen rast, hält Behaltenseffizienz womöglich für ein Fremdwort. Schell hält dies allerdings für „ausgesprochen unterhaltsam.“

Schnell ist auch Nakamura, dafür ist er analytisch gehaltvoller. Aber Spieler, die etwas mehr Zeit brauchen, sollten auf „GM Hikaru“ rege von der Pausetaste Gebrauch machen und gute Englisch-Kenntnisse besitzen. Im Vergleich mit Rozman und Nakamura wirken die Kommentare von GM Klaus Bischoff auf ChessBase wie ein Sedativum, was sie inhaltlich und auch sonst nicht schlechter macht. Dagegen setzen die US-Influencer stärker auf Reizüberflutung. Durch schnell geschnittene Clips, was stylish ist. Permanent eingeblendete Kommentare der Follower braucht eigentlich keiner.

Live-Streaming: Was kann TwitchTV?

Bei TwitchTV handelt es sich überwiegend um Livestreaming. Allerdings können auch vorproduzierte Beiträge online gestellt werden. Das Geschäftsmodell bei TwitchTV funktioniert übrigens anders als bei YouTube. Es basiert auf sogenannten Subscriptions, also Bezahlabos, die etwa bei € 4/Monat liegen.
TwitchTV eignet sich besonders für die Live-Kommentierung von Partien. Ein Beispiel ist „SchachdeutschlandTV“, der Anfang 2021 an den Start gegangene offizielle und kostenlose Kanal des Deutschen Schachbundes und seiner Mitgliedsverbände. Dort werden z.B. aktuell Partien der Schacholympiade von Klaus Bischoff und Garry Leusch unter die Lupe genommen (s. Screenshot).

Interaktiv…

Live-Streaming sorgt für eine größere Bandbreite bei den Online-Angeboten. Die meisten der Influencer bieten daher neben ihrem YouTube Channel auch Live-Streams an, was laut Franz Jürgen Schell den Vorteil hat, dass die User das Geschehen kommentieren können. Und die Kommentare kann der Influencer aufgreifen, sodass live eine spannende Interaktion zustandekommt.

Kommunikativ…

Auch bei der Live-Kommentierung von Partien kann man traditionelle Formate durch spannendere ersetzen. So hat der DSB auf erfolgreiche Konzepte regiert, wie man sie aus den USA oder von chess.24 kennt. Zwei Kommentatoren, wie etwa Klaus Bischoff und Garry Leusch, die sich die Bälle gegenseitig zuwerfen, sind definitiv interessanter als ein monologisierender Titelträger. Ich erinnere mich besonders gerne daran, wie Judit Polgár vor einigen Wochen auf chess24 Magnus Carlsen als Gast-Kommentator zuschaltete und zeigte, dass sie taktisch mindestens so fit ist wie der Weltmeister.

Und was wird aus dem Vereinsschach?

Beeindruckend an Franz Jürgen Schells Artikel im Schachmagazin KARL war neben den tiefen Einblicken in die YouTube- und TwitchTV-Szene die ungeheure Vielfalt der digitalen Angebote – widergespiegelt in einer profunden Recherche. Allein aus Platzgründen kann diese Rezension nur bruchstückhaft auf den 10-seitigen Beitrag eingehen. Dabei wären Spielformen wie „Hand and Brain“ (ein Spieler nennt die Figur, sein Partner muss den Zug auswählen) oder die Streamer Battles ein paar Sätze wert. In den Battles treten die Mitglieder von zwei Communitys gegeneinander an – was gleichzeitig von ihren „Chefs“ kommentiert wird! Man sieht, wie originell sich die Szene aufstellt.
„Social Media sind sehr dynamisch. Der Erfolg von heute kann morgen schon Geschichte sein“, bringt es Schell kritisch auf den Punkt. Und er weiß auch, dass man die Contents daher ständig neu erfinden muss, um die Zuschauer zu binden. Etwa durch die beliebten Pogchamps, in denen Prominente ohne Schachkenntnisse gegeneinander antreten und von Meistern gecoacht werden. Und die haben natürlich zu leiden…

Schachlernen im Internet?

Nachdenklich sollte aber eine Aktion von Antonio Radić stimmen, dem es gelang, im Dezember 2021 auf Lichess ein Blitzturnier zu veranstalten, das 19.000 Teilnehmer anzog. Darunter auch Magnus Carlsen. Preisgeld war ein Bitcoin (damals € 40.000 wert). Das Ergebnis: die Server brachen zusammen, das Turnier konnte erst Wochen später zu Ende gespielt werden. Schach zeigte seine gewaltige Anziehungskraft – und die scheint auch ohne fettes Preisgeld groß genug zu sein, um das Vereinsschach in eine Nische zu schieben.

Vereinsfunktionäre werden sich fragen, ob man in diesem Unterhaltungs-Business auch vernünftig Schach lernen kann. Auch Schell tut dies, er glaubt auch, dass dies möglich ist, aber nur „wenn man weiß, was man sucht und richtig auswählt.“
Auch hier gibt es eine große Anzahl von kostenpflichtigen (z.B. Niclas Huschenbeths Schachschule) und kostenlose Angebote (etwa bei „The Big Greek“).

Natürlich kann man alles auch in Büchern erfahren, aber absolute Anfänger sind in Vereinen eher nicht gut aufgehoben – sieht man mal vom Jugendtraining ab. Im Internet ist das möglich.  Auch weil der Schachlernen in einer virtuellen Community „eine eigene soziale Dynamik“ (Schell) schafft. Und die ist sehr motivierend.
Nur am Rande: der Rezensent empfiehlt „Ellis Schatztruhe“ auf ChessBase. Dort bieten Elisabeth Paehtz und ihr Co-Kommentator Arne Kaehler in ihren Lehrvideos ziemlich anspruchsvolle Analysetechniken an. Garantiert nichts für Anfänger, aber wer wissen will, wie man eine Stellung beurteilt und wie man richtig analysiert, ist dort bestens aufgehoben.

Schach als Home-Office?

Ob das Digitale Schach wirklich eine Konkurrenz für Schachvereine ist oder ob eine friedliche Koexistenz möglich ist, steht nicht in den Sternen. Es sieht ganz danach aus, dass die Online-Angebote die größeren Bindungskräfte besitzt. Besonders dann, wenn beim Vereinsabend zu häufig nur geblitzt wird, aber andere Turnierformen zu kurz kommen. Und der eine oder andere wird sich auch fragen, ob es sich lohnt, für ein Auswärtsspiel in der Bezirksliga zwei Stunden Autofahrt zu investieren, wenn man auf Lichess eine Alternative findet.

Schach als Home-Office? Ganz so schlimm wird es nicht werden, denn das Vereinsschach hat seine eigenen Bindungskräfte. Etwa die ganz spezifische Vereins- und Sozialkultur. Auch die Mannschaftswettkämpfe face to face bieten eine ganz andere Spannung als ihr virtuelles Pendant. Aber sich darauf zu verlassen, ohne nach attraktiven Angeboten zu suchen, wird nicht gutgehen. Die Mitgliederzahlen werden es zeigen.

Leider sind alternative Angebote nicht leicht umzusetzen. Vereinsschach war und bleibt die Domäne von Ehrenamtlichen. Und die können nicht zusätzlich digitale Angebote aus dem Zylinder ziehen. Allein die Konstanz, die das Einpflegen der vereinseigenen Website erfordert, ist eine Herausforderung. Aber immerhin ist dies ein digitales Angebot, das bestenfalls demonstriert, dass Vereinskultur auch online sicht- und nacherlebbar gemacht werden kann.

Alles andere wird die Zukunft zeigen. Und wie die aussehen könnte, kann man in Franz Jürgen Schells Artikel hautnah erleben. Er sollte nicht nur für Schachspieler, sondern auch für Funktionäre und Ehrenamtliche Pflichtlektüre sein.

Quellen
  • (1) Deutscher Schachbund (02/2002): Mitgliederentwicklung 2022:
  • (2) Deutscher Schachbund (2020): Aktion „Schach dem Virus“
  • (3) Souleidis, G. (2022): Balance zwischen Angriff und Verteidigung
  • (4) Huschenbeth, Niklas: GM Huschenbeth.
  • (5) Leusch, G.: Gunny’s Chessalyze (2022):
  • (6) Leusch, G.: GunnysWorld.
  • (7) Schell (2021): Die Schachkneipe auf Twitch.
  • (8) Leusch, G. (2022): GunnysWorld.
  • (9) Rozman, L. (2022): GothamChess.
  • (10) Radić, A. (2022): Agadmator’s Chess Channel.
  • (11) Nakamura; H.: GM Hikaru.
  • (12) SchachdeutschlandTV (2022)
  • (13) Gustafsson, J. (2022): JanistanTV.
  • (14) Paehtz, E./Kaehler, A.: Ellies Schatztruhe.