„Das Wunder von Marseille“ – ein sehenswerter Schachfilm

In Zeiten des Corona-Virus und des empfohlenen Rückzugs in häusliche Gefilde erleben viele Menschen einen unerwarteten Freizeitüberschuss. Was tun mit der gewonnenen Zeit? Online zocken, Training intensivieren? Ich empfehle einen Film, der von einem Kind erzählt, für das nicht ein Virus, sondern sein Schachtalent zur tödlichen Bedrohung wird.

Mischung aus Humor und bitterem Ernst

„Das Wunder von Marseille“ – das ist in jeder Hinsicht ist ein doppelsinniger Filmtitel. 2011 gewann Fahim Mohammad, der 11-jährige Held des Films, als Migrant ohne Papiere die französische U 12-Meisterschaft, an der er nach dem Willen der Verbandsfunktionäre gar nicht hätte teilnehmen dürfen. Später wurde er sogar Schüler-Weltmeister. Ein Wunder.
Dass sein Vater Nura vom französischen Premierminister François Fillon nur dank des Schachtalents seines Sohns eine Aufenthaltserlaubnis erhielt, war angesichts der zu diesem Zeitpunkt deutlich restriktiveren Einwanderungspolitik das zweite Wunder. Vater und Sohn durften danach bis heute in Frankreich bleiben – natürlich auch als öffentlichkeitswirksames Beispiel einer gelungenen Migrationspolitik.

Regisseur Pierre-François Martin-Laval erzählt diese Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert, als Dramödie, also als Mischung aus Humor und bitterem Ernst. Gleich zu Beginn sieht man ein zerrissenes Bangladesch. Politische Unruhen beherrschen die Straßen, die Polizei schlägt zurück. Als Fahims Vater, ein Offizier der lokalen Feuerwehr, während einer Demonstration identifiziert wird, gerät auch sein Sohn in den Fokus der Polizei. Fahim wurde in der Presse kurz zuvor als Schachgenie gefeiert, nun muss seine muslimische Familie fürchten, dass das Kind aus Rache entführt oder gar getötet wird. Fahim flieht mit seinem Vater aus Bangladesch nach Frankreich und entwickelte sich dank der Förderung durch den renommierten Schachtrainers Xavier Parmentier zu einem guten Turnierspieler und wird schließlich französischer Landesmeister in der U 12.

Der Film ist die Adaption des Buches „Un roi clandestine“ (übersetzt: Der heimliche König), das bereits 2015 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Spiel um dein Leben, Fahim!“ erschien und 2019 marktgerecht als Buch zum Film in „Das Wunder von Marseille“ umgetitelt wurde. Verfasst wurde die Autobiographie von der Schriftstellerin und Anthropologin Sophie Le Callennec unter Mitarbeit von Xavier Parmentier, der 2016 verstarb. Ins Deutsche übersetzt wurde das Buch von Andrea Kunstmann. Der Film ist seit Anfang dieser Woche auf DVD und Bluray erhältlich.

Wumm!

Falsche Erwartungen sollte man nicht haben: weder das Buch noch der Film erzählen eine Geschichte über Schach, sondern über einen Flüchtling, der Schach spielt und dem das Königliche Spiel das Leben rettet. In Pierre-François Martin-Lavals Film gelingt die Trennschärfe zwischen Sportfilm und Sozialdrama etwas intensiver als im Roman, denn die Kamera Régis Blondeaus taucht immer wieder realistisch ein in die ärmlichen Banlieues der Stadt, in die schäbigen Hotels, die sich Nura und Fahim bald nicht mehr leisten können, in die engen Notunterkünfte und in die provisorischen Zeltlager, in denen die Flüchtlinge hausen –  und in die kalten Büros, in denen die Migranten ihre Asylanträge begründen müssen.

Dieser Realismus verblüfft, denn „Das Wunder von Marseille“ will erkennbar eine jener typisch französischen Feel Good-Komödien sein, in denen zwar aktuelle Probleme thematisiert werden, über die man dann aber leichtfüßig hinwegwitzeln kann. Ein Spagat, der mit Abstrichen gelingt.
In Martin-Lavals Film sorgt Gérard Depardieu als rabiat-kauziger Schachtrainer Sylvain für den komödiantischen Touch, unterstützt und auch kritisch hinterfragt von der herzensguten Schulsekretärin Mathilde (Isabelle Nanty), die am Ende sogar im Alleingang Fahim und seinen Vater retten wird. Zwei genretypische Figuren, die immer wieder für ein paar lockere Sprüche gut sind.

Den kleinen Fahim nimmt Sylvain erst in seinen Kurs auf, als er dessen enormes Talent erkennt. Der schwergewichtige Gérard Depardieu läuft dabei zu großer Form auf. Die Verwandlung vom zynischen Misanthropen in einen empathischen Freund und Förderer gelingt dem Altstar nicht dann, wenn er am Demobrett seinen Schülern Partien vorführt, Schach als brutalen Krieg definiert und jedes Opfer mit einem krachenden Faustschlag gegen die Wand begleitet, sondern als er damit beginnt, sich endlich auch über die politische Zerrissenheit von Fahims Heimat zu informieren. Sylvain nimmt Fahim danach nicht mehr als nur als Schachspieler wahr, sondern als Kind mit einer schweren Bürde.

Fahim ist ein ungeschliffener Diamant, der auf den 64 Feldern nur den Angriff kennt, aber noch den positionellen Feinschliff benötigt, um die Spielstärke eines Meisters zu erlangen. Das junge Schachtalent wird von Assad Ahmed gespielt. Es ist seine erste Filmrolle, beim Casting landete er nur durch einen Zufall. Während der von Mizanur Rahaman zurückhaltend, glaubwürdig und mit ewig traurigem Blick verkörperte Vater Fahims  auch aufgrund der für unüberwindbaren Sprachbarriere immer weniger mit der Kultur- und Sozialpolitik eines fremden Landes klarkommt, gelingt dem Kind die Anpassung an Sprache und Kultur scheinbar mühelos. Assad Ahmed spielt diese Rolle verblüffend gut. Selbstbewusst und am Schachbrett aggressiv auftretend, ein Kind, für das das Wort Remis nicht existiert.

Dass die Vater-Sohn-Beziehung zunehmend an Bedeutung verliert, gehört zu den Schwächen des Films. Während Fahim immer mehr in seinem Schach-Biotop versinkt, wird sein Vater immer mehr zur Randfigur. Dass Nura ausgewiesen werden soll, auf der Straße lebt und nachts in den U-Bahn-Stationen schläft, zeigt „Das Wunder von Marseille“ nur noch episodisch. Fahim bekommt davon nichts mehr mit.

Buch und Film unterscheiden sich erheblich – auch in Sachen Schach

Sophie Le Callennec erzählt in „Spiel um dein Leben, Fahim!“ sehr differenziert von den politischen und sozialen Spannungen in Frankreich, dessen Migrationspolitik sich 2011 bereits im Umbruch befindet. Der kleine Fahim muss im Buch (er tritt als Ich-Erzähler auf) die Erkenntnis verarbeiten, dass es für ihn in Frankreich erneut ums nackte Überleben geht. Dabei gelingt es der Ghostwriterin Sophie Le Callennec, den „anderen Blick“ eines Kindes auf diese prekäre Umgebung empathisch in eine ausdrucksstarke Kunstsprache zu verwandeln. Und die zeigt deutlich, dass Fahims Trennung von seiner Mutter und seine extremen Kindheitserfahrungen nur schwer zu bewältigen sind.
Dieser Blick wird durch die intelligenten Kommentare des Schachtraines Xavier Parmentier ergänzt, der Fahims Geschichte aus einer anderen Perspektive sieht: Politisch, sozial, kulturell – und natürlich sportlich. Dem Leser wird schnell klar, dass das Buch von einem schwer traumatisierten Kind erzählt. Der Film „erspart“ dem Zuschauer diese ernüchternden Perspektiven.

Und das Schach? So beindruckend das Buch auch ist, wer etwas über Schach lesen will, wird überwiegend enttäuscht sein. Sophie Le Callennec schreibt völlig kenntnisbefreit über ein Spiel, das sie offenbar nicht versteht. Auch Andrea Kunstmann konnte als Übersetzerin die schwierige Materie nicht bändigen. So werden Figuren nicht etwa getauscht, sondern „geworfen“. Und dass Fahim im Buch ohne Kompensation eine Dame einstellt, um dann den stundenlangen „Zermürbungskampf“ zu gewinnen, scheint – gelinde gesagt – doch recht fiktiv zu sein.
Bereits als Achtjähriger demonstrierte der echte Fahim 2008 in einem ungarischen Open eine Spielstärke von deutlich über ELO 2000. Dass einem Achtjährigen, der gestandene Meisterkandidaten schlägt, elementare Kenntnisse beigebracht werden müssen, obwohl er enthusiastisch als Genie gefeiert wird, wirkt nicht gerade überzeugend. Das zeigt ohne viele Worte Fahims Partie gegen Istvan Mayer (2136) aus dem Jahre 2008. (Joe, Norbert und Hajo wären froh, wenn sie so einen Achtjährigen hätten).

Im Film ist funktioniert das besser. Die Trainingsstellungen Sylvains sind nicht nur realistisch, sondern deuten ein gehobenes Niveau an. Ebenso die Partiefragmente, die man immer wieder im Film sieht. Und das ist angesichts der oft abstrusen Darstellung von Schach in Kinofilmen ein fetter Pluspunkt für „Das Wunder von Marseille“.

Guter Film trotz einiger Abstriche

Der Film von Pierre François Martin-Laval, der auch an dem Drehbuch mitarbeitete, ist sehenswert, auch wenn er einige biografische Details einer gradlinigen Dramaturgie geopfert hat. Ein Kassenhit ist der Film mit einem weltweiten Einspielergebnis von etwas mehr als zwei Mio. US-Dollar nicht geworden. „Das Wunder von Marseille“ ist ein Nischenfilm, daran ändert auch die Verpflichtung des Zugpferdes Gérard Depardieu kaum etwas. In Osnabrück lief der Film nur in der sonntäglichen Matinee.
Aber Martin-Lavals Film macht doch eine Menge aus der komplizierten Thematik und ist auch schachtechnisch auf der Höhe. Dass der Film mit dem größten Triumph seiner Hauptfigur endet und dann auch noch ein fettes Happy-Ende serviert, ist ein marktgerechter Kompromiss, den man wohl oder übel akzeptieren muss. Im Film wird die Familie wieder zusammengeführt, in der Realität sah dies anders aus.

Dort wurde Fahim Mohammad recht schnell FM. 2018 erreichte er eine ELO von 2383, danach stürzte er in einem Turnier in Metz völlig ab, verlor fast alle Partien und büßte 250 ELO-Punkte ein. Ob der Tod seines Mentors Xavier Parmentier einen Anteil an dieser Entwicklung hat, bleibt offen.

„Als ich den Film sah, war ich gerührt, hatte aber gleichzeitig ein seltsames Gefühl. Alles ist echt, aber ich fand, dass es eigentlich nicht um mich ging“, beschrieb Fahim Mohammad seine Erfahrungen mit der filmischen Fiktion in einem Interview. „Die Geschichte ist im Groben meine Geschichte, aber der Fahim des Films entspricht nicht vollkommen meiner Person. (…) Ich persönlich mag den Film, weil er nicht nur das Elend der Menschen schildert und weil er eine schöne Geschichte erzählt, denn die Figuren schlagen sich ja am Ende durch. Ich mag ihn auch deshalb, weil Schach dort eher als Abenteuerspiel behandelt wird statt als intellektuelles Spiel. Leute, die nichts davon verstehen, werden trotzdem auf ihre Kosten kommen. (…) Im Gegensatz zu dem, was man denken könnte, hatte ich nie vor, mein ganzes Leben dem Schachspiel zu widmen. Ich fürchte mich zu sehr davor, verrückt zu werden, wie einige große Meister. Deshalb brach ich vor einigen Monaten mein Training ab. Ich werde es wieder aufnehmen, aber ganz sachte. Heute bin ich mit mir im Reinen. Ich denke nicht mehr an die Zeit, als ich auf der Straße schlief.“

„Das Wunder von Marseille“ hat mich trotzdem positiv überrascht, ich hatte mit einer gelungenen Umsetzung des Stoffes eigentlich nicht gerechnet. Unterm Strich wird diese ungewöhnliche Migrationsgeschichte mehr als passabel erzählt, im wahren Leben gibt es leider mehr Brüche.
„Fahim wartet immer noch darauf, seine Mutter wiederzusehen“, schreibt Sophie Le Callennec im Nachwort des Buches. „Aber indem das Leben ihm seine Kindheit raubte, hat es ihm die Flügel gestutzt. In ihm zirkuliert immer noch das Gift der Angst. In seinem Alter steckt man dreieinhalb Jahre in der Hölle nicht so leicht weg (…) Er ist zwar kein illegaler König mehr, aber noch immer ein König auf dem Wege der Genesung.“

Das Wunder von Marseille – Original-Titel: Fahim – Frankreich 2019 – Regie: Pierre François Martin-Laval – Buch: François Martin-Laval u.a. – Laufzeit: 107 Min. – FSK: ab 12 Jahren – D.: Assad Ahmed, Gérard Depardieu, Isabelle Nanty, Mizanur Rahaman u.v.a. – Streaming: Prime Video.