Die Welt des Schach-Schiedsrichters

28 Fragen auf 13 Seiten waren zu beantworten, dazu noch eine mündliche Prüfung. „Das zerrt an den Nerven, aber trotzdem: sehr spannend“, resümierte Stefan das Weiterbildungsseminar für Schiedsrichter, das vom 20.07.-23.07.2017 in Gladenbach (Hessen) stattfand. Am Ende einer intensiven Schulung und fordernden Prüfungen hatte er es geschafft: Er ist Nationaler Schiedsrichter! In einem sehr spannenden Rückblick wirft Stefan einen Blick hinter die Kulissen.

Die Welt des Schach-Schiedsrichters

Ein Bericht von Stefan Ewert

Ist es eigentlich vorstellbar, dass bei einem Fußballspiel ein Strafraum-Foul zwischen den beteiligten Spielern fair diskutiert wird und man zu einer gemeinsamen Lösung kommt? Ist es vorstellbar, dass beim Tennis ein Ball nur Zentimeter außerhalb des Spielfelds aufschlägt und beide Spieler anstandslos den Punkt an den richtigen vergeben? Ist es vorstellbar, dass beim Tanzsport ein Schrittfehler unbemerkt bleibt und derjenige dann den Event gewinnen darf?

Nur in den allerseltensten Fällen wird man solche Situationen ohne Probleme meistern können. Damit jeder, der an einem Wettbewerb teilnimmt, sich auch an die Regeln hält, gibt es den Schiedsrichter. Und jeder, der schon einmal an einem Schach-Turnier teilgenommen hat, weiß, dass es auch dort einen Schiedsrichter gibt – und das ist auch gut so!

Wenn man der im Internet auf schachbund.de veröffentlichten Liste glaubt (und das tue ich!), dann haben wir im SV Hellern zurzeit drei lizensierte Schiedsrichter. Außer mir sind das noch Frank Pfeifer und Stefan Röhrich. In der erwähnten Liste werden wir alle drei als „Regionaler Schiedsrichter“ aufgeführt, das ist der Titel den man nach der bestandenen Einstiegsprüfung führen darf.

Auf dem Weg zum Nationalen Schiedsrichter

Vom 20.07.2017 bis zum 23.07.2017 fand in Gladenbach (Hessen) ein Weiterbildungsseminar für Schiedsrichter statt. In zahlreichen Lerneinheiten wurde nicht nur Wissen aufgefrischt, sondern es wurden auch die zwischenzeitlich verabschiedeten Regeländerungen „2017“ vorgestellt und besprochen. Abgeschlossen wurde das Ganze mit zwei Prüfungen: zwei Stunden (!) schriftlich und in Dreiergruppen 30 Minuten mündlich. Wer da durchkommt, darf sich anschließend „Nationaler Schiedsrichter“ nennen, das ist sozusagen ein Aufstieg in der Schiedsrichter-Hierarchie.

Bereits im Mai 2017 hatte ich mich für diesen Termin angemeldet. Nach der ersten Prüfung zum „Regionalen Schiedsrichter“ im September 2014 und diversen eigenverantwortlich geleiteten Mannschaftskämpfen schien mir nun die Zeit für den nächsten Schritt gekommen zu sein.

Donnerstag


Ein halber Arbeitstag im Büro in Münster, dann ins Auto und weiter nach Hessen. Der erste Programmpunkt der Weiterbildung sollte direkt nach der Ankunft im Seminarhotel das gemeinsame Abendessen um 18.00 Uhr sein, so stand es auf dem vorab verteilten Terminplan. Insgesamt 24 Teilnehmer treten an, um sich mit kniffeligen Detailfragen auseinanderzusetzen, dazu kommt (aber nur zur Prüfung) ein weiterer Teilnehmer, der im Vorjahr durchgefallen war (ja, die lassen wirklich welche durchfallen!). Ein Blick in die Runde – kenne ich jemanden? Nein, ich bin der einzige Niedersachse, auch aus dem benachbarten NRW ist niemand dabei. Das Abendessen ist sehr üppig – ich weiß schon jetzt, dass ich garantiert nicht verhungern werde.

Und damit die Zeit auch ordentlich genutzt wird, ist doch tatsächlich nach dem Abendessen ab 19.00 Uhr schon „Zuhören“ angesagt. Der Lehrgang wird geleitet von Jürgen Kohlstädt (Vorsitzender der Schiedsrichter-Kommission im DSB und Schiedsrichter-Obmann), Ralph Alt (Bundesturnierdirektor) und Prof. Dr. Jürgen Klüners (Beauftragter für die Schiedsrichter-Ausbildung). Nach der Begrüßung und einleitenden Erklärungen verbringen wir den Donnerstagabend mit der Bundesturnierordnung, die u.a. den Betrieb der ersten und zweiten Schach-Bundesliga regelt und auch für den nationalen Schiedsrichter von Bedeutung ist. Die Fülle von Informationen erschlägt uns bereits jetzt, für ein anschließendes Blitzturnier finden sich nicht genug Teilnehmer – die meisten verbringen den Rest des Abends „einfach so“ mit ein oder vielleicht auch zwei Kaltgetränken.

Freitag

Am Freitagmorgen geht’s nach der Stärkung durch das Frühstück mit den FIDE-Regeln los. Wir starten tatsächlich ganz vorne. Theoretisch eigentlich alles einfache Themen – ja, eigentlich, aber wer als Schiedsrichter mit Problemen konfrontiert wird, muss auch die vermeintlich einfachen Dinge mit einer schlafwandlerischen Sicherheit wissen. Deshalb gehören auch so profane Dinge wie die „Ausrichtung des Bretts“ zum Kursinhalt. Wäre doch schließlich fatal, wenn man erst während der Partie merkt, dass das Brett verkehrt liegt. Oder weiß hier wirklich jeder Leser, welche Entscheidung dann zu treffen wäre?

Die Theorie ist anstrengend. Mittags- und nachmittägliche Kaffeepausen sind willkommene Unterbrechungen. Auch am Nachmittag stehen weiterhin die FIDE-Regeln auf dem Plan. Inzwischen beschäftigen wir uns mit Details: wann ist ein Zug ausgeführt und wann ist er abgeschlossen? Welche Reklamations- bzw. Protestgründe kann der Spieler vortragen, und wie reagiert der Schiedsrichter darauf? Wann erkennt der Schiedsrichter eine Remis-Reklamation an und wann nicht, und wieso nicht? Alles sehr knifflig, man muss wirklich genau wissen, was im Regelwerk steht! Das Abendessen beendet den Lehrgangs-Teil mit den FIDE-Regeln. Wer Fleisch mag, ist in diesem Hotel definitiv gut aufgehoben. Ist aber auch wirklich köstlich zubereitet.

Genau wie am ersten Abend müssen wir auch am Freitagabend noch eine Spätschicht einlegen. Wir erfahren zunächst Details zu üblichen Vorgehensweisen bei Turnierorganisationen. Ralph Alt kennt kein Erbarmen, es wird draußen bereits dunkel, als er uns die Handhabung der gängigsten elektronischen Uhren erklärt. Dabei ist auch das neueste Modell von DGT, die „3000“. Sehr (!) einfach zu bedienen und folglich äußerst empfehlenswert!

Sonnabend: Nun wird es ernst…

Am Samstag ist dann Gruppen-Arbeit angesagt. Die Teilnehmer waren vorab gebeten worden, pro Person ein bis zwei „Fälle“ aus der Praxis per Email einzureichen. Wir werden in 4-köpfige Schiedsrichter-Gruppen aufgeteilt und dann darf jedes Gruppenmitglied ein bis zwei Fälle entscheiden – und muss sich natürlich in der folgenden Diskussion mit den „ja, aber“-Argumenten der anderen Gruppen auseinandersetzen. Insgesamt ein sehr interessanter Vormittag, man glaubt gar nicht, welche Auslegungen der Regeln möglich sind und wie man dabei trotzdem innerhalb der eigentlichen Regel bleibt!

Nach dem Mittagessen stehen die „schwarzen Schafe“ auf dem Plan: es geht um „Anti-Cheating“, also um Erkennung und Verhinderung von Ergebnismanipulationen. Ein äußerst ernst zu nehmendes Thema – keiner von uns möchte doch am Ende einer Partie feststellen, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist!

Um 15.15 Uhr beginnt es dann ernst zu werden. Es steht zwar nur eine Pause mit Kaffee und Kuchen an, aber für 16.15 Uhr wird die schriftliche Prüfung angekündigt. Die Kaffeetasse und die Kuchengabel liegen zwar noch einigermaßen ruhig in meiner Hand, trotzdem kreisen meine Gedanken ausschließlich um das bevorstehende Highlight. Die meisten gehen auf ihr Zimmer, um noch ein wenig Ruhe tanken zu können. Ich mache das auch und nehme mir ein letztes Mal die FIDE-Regeln zur Hand, um nochmals durch die wichtigsten Regeln blättern zu können.

Pünktlich um 16.15 Uhr bin ich dann im Prüfungsraum. Wir sitzen weit genug auseinander, damit auch wirklich jeder nur sein eigenes Wissen nutzt. Dann der Schock – sage und schreibe 28 Fragen sind auf 13 Seiten verteilt. Wie soll ich das schaffen? Das sind ja nicht einmal 5 Minuten pro Frage! Aber wenn ich eines aus meiner ersten Prüfung von 2014 gelernt habe, dann das: erstmal die leichteren Fragen beantworten, dann zurückspringen und den Rest bearbeiten. Sonst schaffst Du es nicht. Der Erste gibt schon 30 Minuten vor Prüfungsende seine Bögen ab, während ich noch um die Schließung von Lücken kämpfe. Meine Taktik mit dem Hin- und Herspringen scheint aber aufzugehen, am Ende steht bei allen 28 Fragen etwas. Aber ob das auch für genug Punkte ausreicht?

Der Abend plätschert mit dem Abendessen und auch danach so vor sich hin. Man fachsimpelt über dieses und jenes, und es gibt die ersten langen Gesichter: „Was, die Antwort hast Du da hingeschrieben? Und das ist wirklich richtig? Mist, ich hab‘ was anderes geschrieben, da bekomme ich bestimmt keine Punkte!“

Gegen 23.00 Uhr sind dann alle schriftlichen Prüfungen ausgewertet. Zur Wahrung der Verschwiegenheit klärt Prof. Dr. Jürgen Klüners die Teilnehmer ausschließlich in persönlichen Zweiergesprächen über den erreichten Prozentsatz auf. Jeder kann sich nun selbst entscheiden, ob er dieses Wissen mit den anderen Teilnehmern teilen möchte oder ob er es für sich behält, und jeder weiß, was am nächsten Morgen in der mündlichen Prüfung von ihm erwartet wird.

Sonntag: Geschafft!

Am Sonntagmorgen habe ich dann gleich den ersten „Gesprächstermin“. Jürgen Kohlstädt und Ralph Alt quälen mich und zwei weitere Teilnehmer mit Fragen, die jeder Schachspieler wohl schon einmal gehört hat – aber wenn es zu einer Prüfung gehört, dann ist das sehr unangenehm. Reicht das wohl, was ich da erzähle? Hat es das Ergebnis von gestern Abend verbessert oder vielleicht sogar verschlechtert? Leider muss man nach der mündlichen Prüfung den Raum verlassen, ohne das Ergebnis zu wissen. Das zerrt an den Nerven, aber trotzdem: sehr spannend.

Um 11.00 Uhr sind alle mündlichen Prüfungen durch – und noch immer wissen wir nichts über den Ausgang der Prüfung. Prof. Dr. Jürgen Klüners bittet uns erneut in den Seminarraum und hält einen Vortrag über Elo- und Titelbestimmungen für Spieler und Schiedsrichter, während Jürgen Kohlstädt und Ralph Alt die mündlichen Prüfungen auswerten und für jeden sein Gesamtergebnis ausrechnen. Ob da beim Vortrag von SF Klüners wirklich jeder bei der Sache ist? Die beiden anderen Referenten betreten währenddessen wieder den Raum, es gibt viele fragende Gesichter. Aber eben leider keine Reaktion, der Vortrag wird natürlich zu Ende geführt. „Gibt es noch Fragen?“ Nein, natürlich nicht, wir warten auf etwas anderes …

Bedarf es noch einer Erklärung, dass nun wirklich der wichtigste Augenblick des gesamten Lehrgangs gekommen ist? Die drei Referenten teilen die Prüfungsbögen an uns aus, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass wir sie nicht behalten und auch nicht fotografieren dürfen. Schade – aber nur verständlich. Auf der letzten Seite sind die Ergebnisse nach schriftlich, mündlich und gesamt aufgeführt. Bestanden, nicht bestanden? Ich starre auf die entscheidenden Zentimeter des Blattes. Und dann die Erlösung: „Bestanden“ ist unterstrichen, „Nicht bestanden“ ist durchgestrichen!

Geschafft! Ich bin ab sofort Nationaler Schiedsrichter!

Die Abschlussbesprechung und das letzte gemeinsame Mittagessen fallen jetzt leicht. Leider ist das nicht bei jedem so, von 25 Prüflingen haben 4 das Ziel nicht erreicht (ja, das muss man sich wirklich erarbeiten, die verschenken nichts!). Mein Sitznachbar gehört auch dazu, er ist während des Essens schon wieder auf der Autobahn – aber zugegeben, er hat auch einen deutlich längeren Heimweg als ich.

Und das Fazit? Spaß hat’s gemacht, auf jeden Fall! Ich kann das nur empfehlen, zumindest für die Mannschaftsführer! Traut Euch!

Schachliche Grüße, Stefan Ewert
(28.07.2017)

Stefan Ewert beantwortet gerne Fragen zu den neuen und alten Regeln.

Literatur

  • Neue FIDE-Regeln – Was ändert sich wirklich in der Praxis?
    (Zusammenfassung von Jürgen Klüners, Internationaler Schiedsrichter, Mitglied der DSB-Schiedsrichterkommission
  • Änderungen und Auslegungen (dort gibt es auch ein PDF mit weiteren Informationen)