Von Morphy, Paulsen, Pillsbury, Lasker, Steinitz und Capablanca ist der räumliche Schritt zu den Zockern im Washington Square Park nur ein geringer. Zeitlich sieht es dagegen etwas anders aus. Schach gehört immerhin seit über 150 Jahren zum Melting Pot New York und die eingangs Genannten waren mittendrin. Dass die Megacity auf eine brodelnde Schachgeschichte zurückblicken kann, davon berichtet das „Kulturelle Schachmagazin KARL“ in seiner neuen Ausgabe und lässt dafür sogar Private Eye Philip Marlowe auferstehen und durch die nächtliche Metropole laufen.
Raymond Chandlers legendärer Privatdetektiv, dem Humphrey Bogart ein Gesicht gab, war ein passionierter Schachspieler. Michael Ehn und Ernst Strouhal haben in seinem Nachlass gewühlt und dabei Marlowes Beschreibung eines nächtlichen Gangs durch Manhattan gefunden. Im Jahre 1994! Gut, Marlowe müsste damals knapp 90 gewesen sein, aber in „You Are My Fish“ begegnen sich Fiktion und Realität, Persiflage und Schachgeschichte auf so kongeniale Weise, dass der Rezensent nicht Erbsen zählen möchte.
„Der Abend war jung, ich hatte die Pest, die er meinte“, beginnt Marlowe zu erzählen. Er schlägt im Manhattan Chess Club auf („sauber wie ein YMCA-Schlafsaal“), mokiert sich über die jungen „College-Fritzen“, die um zehn Scheine One-Minute-Bullet spielen, und zieht weiter zu einem „piekfeinen Laden“, dem Marshall Chess Club, wo er beim 5-Minuten-Blitz Dritter wird, aber gegen ein paar Kroaten schlecht aussieht: „Sie rupften mich wie ein Hühnchen, aber ich verdiente ein paar gute Dollars.“
Später in der Nacht wird Amerikas berühmtester Schnüffler von einem geheimnisvollen Zocker ausgenommen („…bei jedem Zug murmelte er: ‚You are my fish’. Er zog wie ein Automat“) und verschwindet in der Nacht, nicht ohne sarkastisch den Tod von Großmeister Nicholas Rossolimo zu kommentieren, der sich 1975 „vor seinem Fernseher zu Tode gesoffen“ hat.
Gut, das entspricht nicht ganz den historischen Fakten, aber vielleicht weiß Marlowe mehr als die Historiker. „You Are My Fish“ ist einer der letzten Beiträge im neuen KARL, eine grandiose Noir Short Story und eine feine Milieustudie über das New Yorker Schachleben. Natürlich bei Nacht. Und da der Rezensent früher alles von Chandler gelesen hat, hat er damit auch seinen Lieblingsbeitrag im Kulturellen Schachmagazin gefunden.
„Doch was zählt schon so was wie Vergangenheit in dieser verdammten Stadt“, sinniert der fiktive Marlowe. Schachhistoriker Michael Negele ist da anderer Meinung, er geht zurück zu den Anfängen. Wie immer ausführlich und detailreich. Negele schreibt in „Vom Winde verweht … New York 1857 und der Goldrausch des amerikanischen Schachs“ nicht nur über die geistigen Ziehväter des Spiels, Thomas Frére (1820-1900) und Daniel Willard Fiske (1831-1904), sondern auch sehr akribisch über den „Morphy-Hype“ in New York, zu dem auch aufgeregte Diskussionen über dessen sexuelle Orientierung gehörten. Negeles Ausführungen über den einsetzenden Schachboom ab Mitte des 19. Jahrhunderts sind auch deshalb so aufschlussreich, weil sie auf die Beeinflussung der New Yorker Schachszene durch Vorbilder wie das Londoner Turnier von 1851 hinweisen. Das erinnert an den immensen Einfluss des WM-Matches Fischer-Spassky 1972, der auch in Deutschland einen gewaltigen Boom auslöste.
Aber nicht nur der Einfluss der alten Welt löste Enthusiasmus aus. Schach war von Beginn an auch eng verknüpft mit dem Schreiben über Schach – etwa in dem nur kurzlebigen Magazin „The Chess Monthly“. Hier leisteten nicht nur Fiske erstaunliche Pionierarbeit, sondern auch der geniale Paul Morphy und etliche internationale Gastautoren von Rang. Denn eins gilt bis heute: Es geht nicht nur darum, öffentlich zu spielen, sondern medial so zu agieren, dass auch jemand da ist, der zuschaut.
Fiskes Großtat war die Organisation des „First American Chess Congress“ im Jahre 1857. Als historischer Vorläufer der US-Meisterschaften wurde der Kongress als K.O.-Turnier ausgerichtet. Im Finale besiegte der erst in letzter Minute verpflichtete Paul Morphy den deutschstämmigen Louis Paulsen. Nicht ganz ohne Probleme. „Der exorbitante Zeitverbrauchs Paulsens in der zweiten Partie, die nach 56 Zügen und 15 Stunden remis endete, frustrierte Morphy völlig und er bezog prompt seine erste Niederlage in der dritten Partie“, berichtet Negele. Morphy soll daraufhin angekündigt haben, dass Paulsen nie mehr eine weitere Partie gegen ihn gewinnen werde, „womit er recht behielt.“
„Vom Winde verweht“ – mit dieser die metaphorische Überschrift hat Michael Negele besonders die Folgen des Morphy-Hypes auf den Punkt gebracht, denn Frére und Fiske rieben sich am Südstaaten-Gentleman in einer kruden Medienschlacht auf. Der „Ink War“ (Tintenkrieg) endete 1861 mit der Demoralisierung Fiskes und der Einstellung von „The Chess Monthly“. Also in dem Jahr, in dem der Sezessionskrieg (1861-1865) ausbrach, der noch ganz andere Dinge verwehen sollte. Frére und Fiske zogen sich aus der Schachszene zurück, für Negele spiegelt dies sinnbildlich den Riss wider, der die ganze Nation spaltete. Erst mit der Gründung des Manhattan Chess Club (MCC), großzügig gesponsert von Thomas Frére, ging es 1877 weiter.
Über die Geschichte des berühmten Clubs, der 1886 zum ersten Ausrichter einer Schach-WM wurde, berichten verschiedene Autoren im neuen KARL. Bill Wall und Chefredakteur Harry Schaack fassen in einer Vereinschronik die Stationen des MCC zusammen, „der täglich von 13:00 bis Mitternacht geöffnet hatte.“ (Man stelle sich so eine Schachkultur hierzulande vor!). Der MCC war tatsächlich der „Motor der schachlichen Entwicklung“ und organisierte auch den ersten WM-Kampf der Schachgeschichte. Das erste Drittel des Kampfes zwischen Steinitz und Zukertort wurde in den Räumen des MCC ausgetragen. Das Match endete später mit dem körperlichen und geistigen Zusammenbruch des Herausforderers Zukertort.
Interessant sind die Randnotizen der Autoren, zum Beispiel der Hinweis auf den ungeheueren Aufwand, mit dem der MCC für dies Match warb. Aber auch, dass der Club bereits Ende des 19. Jahrhunderts sehr erfinderisch Onlineschach anbot. Wer hier stutzig wird, muss nur den digitalen Begriff durch Telegraphen-Match ersetzen. Möglicherweise würden sich die Gründerväter des MCC über die Online-Übertragung von Zügen und ganzen Turnieren im World Wide Web nicht einmal wundern …
Was der Leser hier lernt, ist offenbar nicht nur ein Stück amerikanischer Kultur: Schach wollte und musste sich in N.Y. über publikumsaffine Sensationen darstellen, um öffentlich wahrgenommen zu werden oder den Akteuren ein Auskommen zu verschaffen. Dazu gehörten natürlich auch spektakuläre Blindschach-Events und Simultanveranstaltungen, über die auch Michael Negele berichtet.
Ein Höhepunkt in der MCC-Geschichte war zweifellos das berühmte Turnier 1924, das vom Club organisiert wurde. Über das Ringen zwischen Weltmeister Capablanca und seinem Vorgänger Emanuel Lasker informiert Harry Schaack in „Two-Men-Show“ sehr ausführlich. Lasker siegte mit 1,5 Punkten Vorsprung, während Capablanca gegen Reti seine erste Niederlage seit 10 Jahren kassierte. Nicht nur Wilhelm Steinitz (historische ELO-Zahl: 2826), sondern auch sein Nachfolger Emanuel Lasker (2878) blieben dem MCC verbunden. Beide Weltmeister starben in N.Y. und wurden dort auch beerdigt, Steinitz in Brooklyn, Lasker in Queens.
Über das nicht weniger berühmte Turnier von 1927 berichtet Harry Schaack in „Triumph der Schachmaschine“. Die Schachmaschine, das ist der amtierende Weltmeister José Raúl Capablanca, der mit großem Vorsprung das ebenfalls vom MCC ausgetragene Turnier gewinnt, später von seinem Rivalen Aljechin in dessen Turnierbuch aber aufs Schärfste verunglimpft wird. „…ein höchst seltsames Werk“, urteilt Schaack und analysiert die Rivalität zwischen dem Kubaner und seinem Nachfolger in einem sehr lesenswerten Beitrag.
„Lange war der Manhattan Chess Club ein Gentlemen Club. „Erst 1918 erlaubte der MCC Frauen den Zugang – aber nur Freitagnachmittag“, fassen Wall und Schaack den Geist der Zeit zusammen. Viele Schachgrößen waren Dauergäste in Manhattan, so auch Capablanca, der 1942 in den neuen Clubräumen des MCC am Central Park einen Herzinfarkt erlitt, den er nicht überlebte. Der geniale Kubaner wurde nur 53 Jahre alt. Robert „Bobby“ Fischer wurde übrigens bereits als Zwölfjähriger Mitglied im New Yorker Renommierclub. Die Beiträge zahlte der Präsident. 2002 wurde der Manhattan Chess Club dann geschlossen. Jahrzehntelang hatte er sich immer wieder ein neues Domizil suchen müssen, am Ende kam vieles zusammen. Der zweitälteste Verein in den USA wurde 124 Jahre alt.
Was die Konkurrenz besser machte, erfährt man auch im KARL. Der große Rivale des MCC war der Marshall Chess Club. Harry Schaack durchschreitet in seinem Beitrag „Unverkäufliche Tradition“ nicht nur Greenwich Village, sondern auch die verschiedenen Räume und Stockwerke eines Gebäudes in der 23 West 10th Street. Dort landet er in einem großen Spielsaal mit Holzboden und Stuckdecke: „Überall hängen Fotos aus alten Tagen. Marshalls Konterfei blickt den Besucher gleich mehrfach an: von Fotos, einem Gemälde über dem Kamin oder als dunkelschwarze Büste.“ Gemeint ist Frank Marshall, der mehrfach US-Champion, der zwar nie Weltmeister wurde, aber eine genialer Taktiker war. Dem sogenannten ‚Marshall Swindle’ fielen zahlreiche Spieler zum Opfer – anders formuliert: Wie gewinnt man in Verluststellung?
In Schaacks Gespräch mit dem Schachhistoriker Frank Brady und dem Club-Präsidenten Stuart Chagrin wird neben einigen Anekdoten auch etwas anderes deutlich. Im Gegensatz zum Manhattan Chess Club hatte Frank Marshall, der Gründer seines gleichnamigen Clubs, das Glück, dass Sponsoren 1931 ein Haus kauften, in dem Marshall und seine Frau leben konnten, auch der Club fand dort eine feste Bleibe. Bis heute.
Zu den Stammgästen in der 23 West 10th Street gehörten Künstler wie Marcel Duchamp und später der Filmemacher Stanley Kubrick. Hier spielte der 13-jährige „Bobby“ Fischer, den Marshalls Frau Carrie nie besonders mochte, seine berühmte Partie gegen Donald Byrne und nahm in den Clubräumen auch per Fernschreiber am Capablanca-Gedächtnisturnier 1965 teil.
In den 1950zigern waren Jugendliche nicht erwünscht, heute hat der Club ein anderes Gesicht: Fabiano Caruana spielte bereits als Zehnjähriger im Marshall, auch Nakamura gehört zu den Mitgliedern. „Die Aura, die der Club ausstrahlt, zieht auch heute noch die besten Schachspieler der Welt an“, fast Schaack zusammen. „Im Marshall triff man immer bekannte Gesichter. Sie existieren nicht nur auf dem Papier, wie in anderen Vereinen. Sie sind Teil der alltäglichen Clubkultur.“
Aber nicht nur die Clubs haben die Schachgeschichte(n) im Big Apple geprägt. Schach gehört auch zum Straßenbild der Stadt. Im Washington Square Park wird täglich gezockt: „Für eine Handvoll Dollar“. Einer, der tatsächlich als Schachprofi davon leben kann, ist Lamont Holloway, der mit einer ELO von 1900 im Durchschnitt 50-60 Dollar nach Hause bringt, an guten Tagen 100. Im Washington Square Park haben nicht nur Stanley Kubrick und „Bobby“ Fischer geblitzt, auch Magnus Carlsen tauchte vor zwei Jahren auf, berichtet Harry Schaack in seinem Beitrag und nimmt danach den Leser auf eine Reise zu weiteren Zocker-Paradiesen mit. Schach ist in N.Y. nicht an jeder Ecke zu finden, aber gelegentlich schon, und das sehr oft…
„Aus dem Getto auf die Eliteuni“ hat es Rochelle Ballantyne geschafft. Stefan Löffler erzählt davon, wie die Afroamerikanerin zum Medienstar wurde. Den USCF-Master muss sie zwar erst noch erstreiten, aber Schach hat ihr bereits ein Stipendium an der renommierten Stanford University verschafft. Umgerechnet 200.000 Euro müssen weniger Begabte dafür berappen. „Sie verdankt es vor allem der Tatsache, dass sie mit ihrer Schule jede Menge Schachmeisterschaften gewann“, schreibt Löffler. Auch so funktioniert der American Dream. Überhaupt Schulschach: An der IS 318 in Brooklyn gehört Schach zum Lehrplan. Und immer häufiger besiegen die Schüler, von denen 70% unter der Armutsgrenze leben, die Mannschaften der teuren Privatschulen. Darüber wurde sogar ein Dokumentarfilm gedreht, der von Siegen „gegen arrogante Mittelschichtkinder und gegen den inneren Schweinehund“ erzählt. Der Film von Katie Dellemaggiore heißt Brooklyn Castle und – natürlich – ist Rochelle Ballantyne Star des Films – sozialer Aufstieg durch Schulschach.
13 Beiträge, dazu einige Buch- und DVD-Kritiken: Der neue KARL ist das, was er immer schon war – genaue, quellengestützte Berichterstattung, bei der auch das letzte Detail nicht verloren gehen soll. Hier wird eine Schreibkultur gepflegt, die in den Zeiten der digitalen Globalisierung auf erfreuliche Weise nach einer Lesekultur verlangt, die old school ist. Die neue Ausgabe bietet auf 66 Seiten aber auch spannende Formate, die sich en passant flott konsumieren lassen. Ein Beispiel ist Andrew Soltis’ Rückblick auf sein anekdotenreiches Leben als Großmeister und Autor („New Yorker, Großmeister, Autor“) oder Wolfram Runkels spannende Reportage über das WM-Match Kasparow-Anand, das 1995, also einige Jahre vor Nine-Eleven, im World Trade Center stattfand („Matt in Manhattan“). Allein Runkels pointiertes Kurzportrait des flamboyanten Schachkommentators Maurice Ashley ist pures Lesevergnügen. Oder last but not least Johannes Fischers Kurzportrait des Profi-Wrestlers Kola Kwariani („Ringer, Schachspieler, Schauspieler“), der „fünf bis sechs Tage ohne Schlaf Blitzpartien spielen konnte.“
Der nächste KARL ist natürlich wieder ein Themenheft. „Genie und Wahnsinn“ werden untersucht, viele Schachspieler werden sich intuitiv angezogen fühlen. Kein Wunder, sind sie doch alle Genies. Jedenfalls jene, die ich kenne.
Ich bedanke mich bei Harry Schaack für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial, ebenso bei Helge Stütze für die schönen Manhattan-Bilder.