Corona: Niedersachsen hat eine neue Verordnung

Am 25. August 2021 ist die neue Corona-Verordnung des Landes Niedersachsen in Kraft getreten. Die alte ist vom Tisch, kaum dass man sich an sie gewöhnt hatte. Wer nun gehofft hat, dass die neue VO einfacher, übersichtlicher und nachvollziehbarer wird, wird enttäuscht: der Text ist so ziemlich das Komplizierteste, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Das Problem: Überkomplexität.

Protokoll des Scheiterns

Soll eine Verordnung bürgernah sein oder muss sie rechtssicher und sachhaltig sein? Kann man einen komplizierten Sachverhalt wie eine Pandemie und die sich ständig ändernden Landesverordnungen so weit vereinfachen, dass sie für jedermann formal nachvollziehbar sind oder führen derartige Versuche nur dazu, dass es noch komplizierter wird?

Ich selbst habe das Gefühl, dass ich gescheitert bin. Zwei Tage intensiver Beschäftigung mit der neuen Corona-VO des Landes Niedersachsen führten zunächst zu dem Ergebnis, dass ich lieber nichts darüberschreiben sollte. Die einfache Lösung.
Aber so einfach will ich nicht nachgeben. Deshalb versuche ich es mit einem Protokoll des Scheiterns, denn dies könnte hilfreich für jene sein, die entweder Juristen sind oder eine hohe Kompetenz in Sachen Verwaltungsrecht besitzen. Missverständnisse helfen halt bei der Optimierung.
Worum geht es im Beitrag? Zunächst um eine Zusammenfassung der Basics, dann aber auch um den Bereich, der für Entscheider und Planer im Bereich Sport wichtig ist. In unserem Fall ist dies „Schach in geschlossenen Räumen.“

Was ist eigentlich das Ziel der neuen VO? Im Prinzip geht es um die Etablierung einer Corona-Warnampel, wie die folgende Graphik (Stand: 26.8.2021) zeigt:

Quelle: Land Niedersachsen

Warum Stadt und Landkreis Osnabrück gelb gefärbt sind, steht im Kleingedruckten. Nun zur Praxis.
Donnerstag, der 25. August. Der Blick in die Zeitung verrät, dass die 7-Tage-Inzidenz der Stadt Osnabrück nun bei 56,3 liegt. Online bietet die Neue Osnabrücker Zeitung aber umfangreichere Daten als in der seit Monaten veröffentlichten Rubrik „Coronavirus“. Hier kann man auch die Zahlen der neuen Leitindikatoren nachlesen:

  • 7-Tage-Hospitalisierungsinzidenz (landesweit): 2,2 Fälle je 100.000 Einwohner (Vortag: 2,1) und
  • Anteil der Corona-Patienten an Intensivbettenkapazität (landesweit): 2,1 Prozent (Vortag: 1,9 %)

Dies korreliert in Niedersachsen mit folgender Systematik:

Quelle: Land Niedersachsen

Das System der Warnstufen vermittelt mit seinen drei Leitindikatoren einen überschaubaren Eindruck. Hier gilt, dass eine neue Stufe erreicht wird, wenn mindestens zwei der drei Leitindikatoren die Bedingungen für eine Warnstufe für einen Zeitraum von 5 Werktagen erfüllen.

Aber es gibt Ausnahmen sowie uns/oder-Regeln. Zu ihnen gehört die (auch politisch interessante) Priorisierung der Inzidenzzahlen, die, so berichteten einige Medien marktschreierisch, „abgeschafft“ worden sind. In Niedersachsen ist dies nicht der Fall: „Erfolgt die Feststellung einer Warnstufe ausschließlich aufgrund der Leitindikatoren „Hospitalisierung“ und „Intensivbetten“ und liegt der Leitindikator „Neuinfektionen“ deutlich und voraussichtlich auf Dauer unter dem Wertebereich dieser Warnstufe, kann der Landkreis oder die kreisfreie Stadt von der Feststellung des Erreichens der Warnstufe absehen“ (Niedersachsen und Corona: Aktuelle Leitindikatoren).

Deshalb reicht die Anzahl der im Krankenhaus behandelten COVID-19-Fälle und die Belegung der Intensivbetten nicht aus, um im Landkreis oder in kreisfreien Städten die Warnstufe 1 zu erreichen. Besonders dann, wenn ein abgrenzbares Infektionsgeschehen vorliegt. Die Formulierung „(…) voraussichtlich auf Dauer“ ist natürlich etwas schwammig in diesen Zeiten.

Zwischenfazit: Osnabrück hatte am 26.8.2021 die Warnstufe 1 nicht erreicht. Aber nun greift eine weitere Ausnahme, nämlich eine und/oder-Bestimmung. In der VO steht nämlich: „Die Ausweitung der 3-G-Regel erfolgt ab Warnstufe 1 oder bei einer Inzidenz über 50 im Landkreis oder der kreisfreien Stadt“ (ebd., Hervorhebung durch den Verf.).

Zum Glück würdigt dies unsere Tageszeitung. Sie weist darauf hin, dass die 7-Tage-Inzidenz bereits am fünften Werktag in Folge über 50 liegt. Da das Infektionsgeschehen diffus ist, kann von einem abgrenzbaren Infektionsgeschehen nicht die Rede sein. Nun greift ab Freitag die 3-G-Regel, die nur vollständig Geimpften sowie Genesenen und Getesteten den Zugang zu bestimmten Bereichen und Dienstleistungen ermöglicht. Zum Beispiel: Innengastronomie, Friseure, Kino, Theater – und sie gilt für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen (einschl. private Feiern) mit mehr als 25 und bis zu 1000 Teilnehmern. Wie wir sehen werden, könnte dies auch für Schach relevant sein.

Die Suche nach dem Schach

Nach wiederholter Lektüre weiß ich immerhin, dass sich Osnabrück im Niemandsland zwischen dem Bereich „Keine Warnstufe“ und „Warnstufe 1“ befindet. Und was passiert, wenn Warnstufe 2 oder gar 3 erreicht werden? Keine Ahnung, ich habe vergeblich danach gesucht. Wie gesagt: dies ist ein Protokoll des Scheiterns.

Aber es geht ja um Schach. Deshalb ist Fokussierung angesagt. Zur Eingrenzung: Welche Fragen sind für unser Kernthema wichtig? Zunächst die Hypothese: Schach ist eine Sportart in geschlossenen Räumen, die eine Einhaltung der Abstandsregel aus spieltechnischen Gründen nicht gewährleisten kann. Danach die Fragen:

  1.  Welche Neuerungen der VO sind für Schach relevant?
  2. Wann gilt die 3G-Regel?
  3. Was ist bei den AHA-L-Regeln weiterhin zu beachten? Und dabei muss die Maskenpflicht geklärt werden.

Frage 1: Offen gestanden: Ich bin ratlos. In der VO taucht Sport nur auf, wenn von Fitnessstudios, Kletter- und Schwimmhallen, Spaßbädern, Thermen und Saunen die Rede ist. Gut, irgendwie hatte ich schon erwartet, dass man sich in Hannover für Nischensport nicht den Kopf zerbricht.

Frage 2 und 3: Wenn die 3-G-Regel ausgeweitet wird, könnte dies bedeuten, dass Abstand, Maske und Hygiene suspendiert werden. Und das ausgehend von der epidemiologisch nicht gesicherten, aber auch nicht unwahrscheinlichen Annahme, dass vollständig Geimpfte, Genesene und Getestete füreinander nicht gefährlich sind.
Wie Alice im Wunderland müssen wir uns zur weiteren Klärung in den weit verzweigten Kaninchenbau begeben. Der beginnt nämlich auf der Online-Seite „Corona-Vorschriften“. Dort sind drei Infografiken zu sehen, aber sie sind nur die Spitze des Eisberges. Tatsächlich muss man sich das „Gesamtpaket Grafiken“ downloaden – und das umfasst 24 Grafiken. Schauen wir uns an, was für alle, immer und unabhängig von der Warnampel, den Leitindikatoren etc. geboten ist:

Klar ist nun:

  1. Die AHA-Regel gilt in Innenräumen, die öffentlich sind oder im Rahmen eines Besuchs- und Kundenverkehrs frequentiert werden.
  2. Tritt die Warnstufe 1 ein, gilt für Sport in geschlossenen Räumen die 3G-Regelung. Ebenfalls für Sitzungen und Zusammenkünfte.

Heureka! Das ergibt doch nun wirklich eine klare Sachlage für Schach: 3G ab Warnstufe 1. Doch Vorsicht: im Kleingedruckten steht, dass diese Infotafel nur eine vereinfachte Übersicht ist: „(…) es gilt ungeachtet dieser Darstellung die gültige Niedersächsische Corona-Verordnung (Stand: 25. August 2021).“

Ein weiter Haken: bereits die nächste Grafik „Die 3G-Regel im Überblick“ verrät, dass sie in erweiterter Form für Sport sowie für Sitzungen und Zusammenkünfte auch bei einer Inzidenz über 50 gültig ist. Aber das ist angesichts der Definition der Warnstufen durchaus nachvollziehbar, deswegen erspare ich dem Leser diese Grafik. Untersuchen wir lieber die Bereiche „Veranstaltungen, Sitzungen und Zusammenkünfte“ und „Sport“.

Quelle: Land Niedersachsen

Hier ist die Maskenpflicht geregelt. Relevant ist das nur, wenn man Schach vorrangig als Veranstaltung oder Zusammenkunft definieren möchte.

In diesem Bereich ist offensichtlich nur eine AH+L-Regel übriggeblieben. Die Maske ist verschwunden. Von Bedeutung für das Schach ist auch die Relativierung der Abstandsregel: sie ist nur zu wahren, wenn die Sportart es zulässt. Das ist bei einer sehr spezifischen Sportart wie Schach nicht hilfreich. Die 3G-Regel dürfte jedem nun klar sein, die Umsetzung der vollständigen AHA+L-Regel allerdings nicht.

Zwischenfazit

  1. Die Planungs- und Durchführungspraxis basiert offenbar immer auf den Regeln für den Bereich „Unabhängig von Warnstufe oder Inzidenz“. Die Erweiterung ist dann ein hinzukommender Überbau.
  2. Für das Schach bedeutet es, dass es eine klare Definition für das Inkrafttreten der 3G-Regel gibt. Stand morgen müsste sie folglich für unseren Verein greifen. Die AHA+L-Regel wurde dagegen im Bereich Sport stark relativiert.
  3. Würde der SV Hellern heute am 26.8. ein Blitzturnier ausrichten, könnte dies ohne 3G geschehen, da diese Regel erst am übernächsten Tag nach der Feststellung greift. Feststellung der Überschreitung durch den Krisenstab: Mittwoch. Veröffentlichung: Donnerstag. Inkrafttreten: Freitag.
  4. Am Freitag könnte das Blitzturnier daher nur unter 3G-Bedingungen stattfinden.
  5. Ein Mannschaftswettkampf am Sonnabend könnte folgerichtig auch nur unter 3G-Regeln stattfinden. Eine heterogene Zusammensetzung der Mannschaften (also auch Nichtgeimpfte und ungetestete Spieler) wäre de jure ausgeschlossen. Bei einer homogenen Gruppe (3G) – und nun lehne ich mich aus dem Fenster – könnte das Tragen einer Maske nur Teil eines vom Verein entwickelten Hygienekonzepts sein (s. auch Pkt. 7, aber auch nachfolgend Hygienekonzept des SV Oberhausen). Das könnte der Fall sein, wenn man Schach als sehr spezifische Sportart wie eine „Veranstaltung in geschlossenen Räumen“ betrachtet. Dies sollte im Idealfall mit den Empfehlungen des Nds. Schachverbandes (NSV) abgestimmt werden.
  6. Definiert man Schach als „Veranstaltung in geschlossenen Räumen“, so gilt gem. § 6 der Corona-VO bei mehr als 25 Personen im Bereich „Unabhängig von Warnstufe oder Inzidenz“ die Verpflichtung der Dokumentation der Kontaktdaten. Dies könnte bei einem Blitzturnier greifen, bei einem Mannschaftswettkampf aber nicht, wenn man Besucher ausschließt. Die Pflicht zur Dokumentation wird bei Erreichen einer Warnstufe nicht verschwinden.
  7. Das Hygienekonzept bleibt Ultima Ratio. Das Inkrafttreten der 3G-Regel ist m.E. als Ausweitung zu verstehen. § 5 der VO bezieht sich beim Punkt Hygiene explizit auf Einrichtungen mit Kunden- und Besuchsverkehr, aber auch auf Veranstaltungen und Versammlungen. In § 5 (2) Pkt. 3 gibt es aber einen einen aufschlussreichen Hinweis. Es handelt sich um die Maskenpflicht. So soll das Hygienekonzept „das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen in Situationen, in denen einander unbekannte Personen nicht einen Mindestabstand von 1,5 Meter einhalten können“ regeln. Wer genau eine unbekannte Person ist, bleibt unklar. Auch beim Schach. Wenn ich eine 3G-Veranstaltung habe, gibt es aufgrund der Statusprüfung zumindest virologisch keine unbekannten Personen.
  8. Insgesamt klarer ist die Pressemitteilung der Landes. Der PR-Effekt gelingt, weil man auf Verwaltungsdeutsch verzichten musste. Meine Empfehlung: den VO-Volltext nur im Notfall lesen und stattdessen die Pressemitteilung studieren und danach das Grafikpaket öffnen.

Details aus der Corona-VO

In der VO findet man bei einer Volltextsuche der Begriff „Sportverein“ nicht. Der Begriff Sport ergibt acht Treffer. Verlässt man sich also nicht auf die Infotafeln (was die VO wie erwähnt auch nicht empfiehlt), muss man im Text der VO nachlesen. Dieser besteht aus der Verordnung und der Begründung.

Positiv ist, dass die neue VO großen Wert darauflegt, viele Bestimmungen auch aus epidemiologischer Sicht zu erklären. Das führt dazu, dass der Begründungsteil länger ist als die VO. Lesbar wird das nur, wenn man die VO zweimal öffnet und auf dem Monitor so anordnet, dass man in einem linken Fenster die VO liest und im rechten die korrespondierende Begründung. Oder auch jene Paragraphen, die im VO-Text als Querverweis angegeben werden. Das wird nicht viele ermutigen, aber es lohnt sich durchaus. Zumindest ist es effizient.

Ich werde nicht auf weitere Details eingehen, weil dies den Rahmen dieses Beitrags endgültig sprengen würde. Allein bei der Dokumentation der Kontaktdaten ist einiges zu beachten, um DSGVO-konform zu bleiben. Dies wird allerdings in § 6 sehr genau beschrieben. Auch der Umgang mit Tests (§ 7) ist nicht so einfach, wie man es sich vorstellt, besonders in Hinblick auf Selbsttests. Hier ist eine Beratung durch das zuständige Gesundheitsamt definitiv zu empfehlen – es sei denn, man hat einen Juristen im Verein 🙂

Blick über die Landesgrenze

Schachfreund Reinhold Happe machte mich dankenswerterweise auf das Hygienekonzept des Oberhausener Schachvereins aufmerksam, das ich als Debattenbeitrag gerne zitiere:

„Am 20. August tritt in NRW eine völlig neu gefasste Coronaschutzverordnung in Kraft. Bei einem 7-Tage-Inzidenzwert über 35 in Oberhausen oder NRW (aktueller Wert: 51,2 in Oberhausen, 64,6 in NRW) gilt für Sport in Innenräumen die „3-G-Regel“. Im Einzelnen bedeutet dies:

An den Veranstaltungen des OSV (Spielabend, Turniere, [Jugend-]Training, Mitgliederversammlung) dürfen nur noch immunisierte (geimpfte oder genesene) oder getestete Personen teilnehmen. Wir sind verpflichtet, die entsprechenden Nachweise zu kontrollieren und Jedem ohne einen solchen Nachweis den Zutritt zum Spiellokal zu verwehren.
Personen, die weder vollständig geimpft noch genesen (mindestens 28 Tage und höchstens 6 Monate zurückliegend) sind, müssen eine Bescheinigung über einen höchstens 48 Stunden zurückliegenden negativen PCR- oder Antigen-Schnelltest vorlegen (keine Selbsttests). Weitere Informationen gibt es u.a. auf der Seite Testen in Oberhausen der Stadt Oberhausen.
Schüler gelten aufgrund der Testplicht an Schulen automatisch als getestet und müssen lediglich ihren Schülerausweis vorlegen; Kinder bis zum Schuleintritt sind generell getesteten Personen gleichgestellt.
In Innenräumen herrscht grundsätzlich Maskenpflicht (auch am Brett), außer zur notwendigen Einnahme von Speisen und Getränken. Eine Ausnahme gilt für die Kinder- und Jugendarbeit bis zu 20 Teilnehmern sowie für Kinder bis zum Schuleintritt. Bei der Maske muss es sich mindestens um eine medizinische Maske handeln; nur Jugendliche, für die keine passenden entsprechenden Masken verfügbar sind, dürfen eine Alltagsmaske tragen.
Wir weisen vor Ort auf zusätzliche Hygienemaßnahmen (Händedesinfektion, Reinigung des Spielmaterials, Regeln beim Kauf von Lebensmitteln) hin, die wir möglicherweise noch überarbeiten und anpassen werden.
Unabhängig von den gesetzlichen Vorschriften bitten wir alle Teilnehmer und Besucher, so oft wie möglich einen Mindestabstand von 1,5 Metern (oder mehr) zu anderen Personen einzuhalten und Gruppengespräche nach Möglichkeit (und Wetterlage) in den Außenbereich zu verlagern.“

Quintessenz: die Oberhausener Schachfreunde verbinden 3G und Maskenpflicht. Das kann man diskutieren. Der Rückkehr zu der oft zitierten „Normalität“ für vollständig Geimpfte, Genesene und Getestete entspricht dies zwar nicht, aber aus praktischen und auch aus epidemiologischen Gründen ist es eine präventive Maßnahme des Oberhausener Schachvereins, die aber Kinder und Jugendliche bis zu einer definierten Teilnehmergrenze außen vorlässt. Epidemiologisch macht das Konzept trotzdem Sinn, weil zwei Aspekte abgeklärt werden müssen: zum einen die Impfdurchbrüche und die damit verbundene Infektiosität von vollständig Geimpften (die o.a. Ausnahmen führen beim OSV immerhin zu einer heterogenen Gruppe), zum anderen die Möglichkeit eines nachlassenden Impfschutzes bei vollständig Geimpften, die zu mehr Vorsicht mahnt.

Im August wurde von Medrxiv.org eine Studie veröffentlicht, in der festgestellt wurde, dass BionTech im Vergleich zu einer erfolgreich überstandenen Infektion bedeutend schneller seine Wirkung einbüßt: „Higher SA RS-CoV-2 IgG antibody titers were observed in vaccinated individuals (…) after the second vaccination, than in convalescent individuals (…). In vaccinated subjects, antibody titers decreased by up to 40% each subsequent month while in convalescents they decreased by less than 5% per month” (Quelle: Large-scale study of antibody titer decay following BNT162b2 mRNA vaccine or SARS-CoV-2 infection (22.08.2021).

Allerdings ist die Studienlage dünn. Und der Immunschutz basiert nicht ausschließlich auf Antikörpern. Aber summa summarum ist das Konzept der Oberhausener eine gute Lösung für den kommenden Herbst und den Winter. Denn die Vierte Welle ist da und nach der vom RKI prognostizierten Verdoppelungszahl der Neuinfektionen (11 Tage) kann man die Uhr stellen: 14. August = 5644, 25. August = 11.561.

Überkomplexität – die VO ist eine Herausforderung

„Von der Komplexität eines Systems spricht man, wenn es eine große Anzahl von Elementen aufweist, die in einer großen Zahl von Beziehungen zueinanderstehen können, die verschiedenartig sind und deren Zahl und Verschiedenartigkeit zeitlichen Schwankungen unterworfen sind“, schrieb der deutsche Soziologe Dirk Baecker.

Wohl wahr. Nun scheint es so zu sein, dass die Realität und die Dinge an sich immer komplizierter werden. Dies scheint folgerichtig dazu zu führen, dass die Theorien, die diese Dinge beschreiben sollen, ebenfalls komplexer werden. Manchmal ist es aber zu viel des Guten und man sucht nach Vereinfachungen, die die Sache auf den Punkt bringen. Glaubt man dem Autor des Artikels „Fehldiagnose ‚Überkomplexität‘ – Komplexität ist die Lösung, nicht das Problem“, dann läuft man in eine Falle. Oder anders formuliert: man fällt einem Paradoxon zum Opfer. Denn Vereinfachungen steigern sogar die Komplexität!
„Komplexität ist die Lösung derjenigen Probleme, die aus Vereinfachungen entstehen, die nicht funktionieren“, konstatierte Baecker und traf zumindest intuitiv den Nagel auf den Kopf. Welche Lösungen der Soziologe zu bieten hatte, ist nicht das Thema dieses Beitrag. Aber einen Satz sollte man sich dennoch merken: „Komplexität lässt sich sozial durch Umstellung von Bürokratie auf Kommunikation bewältigen.“

Übrigens: Dirk Baeckers Aufsatz stammt aus dem Jahre 1992.

Die neue Corona-VO kann einige Pluspunkte auf der Habenseite verbuchen. Es wird mehr erklärt und begründet als in der alten Verordnung. Es gibt mehr Schautafeln, die alles übersichtlich halten sollen. Das ist gut, aber schauen wir uns das Ergebnis näher an.
Die neue VO ist 14 Seiten lang, der Begründungsteil kommt auf 20 Seiten. Zudem gibt es eine Pressemitteilung. Hier gilt – eigentlich – die Regel, dass Pressemitteilungen max. zwei DIN-A4-Seiten lang sein sollten. Man ahnt die Absicht: den Journalisten wird etwas in die Hand gedrückt, was die Sache einfacher und überschaubarer macht und publikationsfertige Sätze anbietet. Die Pressemitteilung des Landes Niedersachsen umfasst allerdings 13 Seiten und ist somit genauso lang wie die VO selbst. Und wenn man das Grafikpaket öffnet, stellt man nach dem Zählen fast, dass es 24 sind. Dirk Baecker hatte Recht: Vereinfachungen steigern die Komplexität.

Sehr viele Variablen oder: Zu viele Köche verderben den Brei

Wie im Beitrag vom 6. August („Corona – Was müssen Vereine in Niedersachsen beachten“) geht es erneut um die Frage, wie Schachvereine in Zukunft ihren Spielbetrieb und die Mannschaftswettbewerbe organisieren können/sollen/müssen.

Ich habe nicht erwartet, dass die neue VO rücksichtsvoll den Spielbetrieb einer Sportart würdigt, in dem generell die Abstandsregel nicht eingehalten werden kann. Die AHA+L-Regel im Schachverein scheint machbar zu sein – wenn man es will.
Dennoch verblüffte mich, dass eine Volltextsuche nach dem Wort „Sportvereine“ in der neuen VO zu folgendem Ergebnis führte: null. Immerhin generierte die Suche nach dem Wort „Sport“ insgesamt acht Seitentreffer, von denen einige relevant waren. Ob man sich bei der Suche nach „Veranstaltungen in geschlossenen Räumen“ inhaltlich verzettelt, bleibt eine offene Frage. Immerhin führte diese Suche zu etlichen Treffern.

Aber die Überkomplexität der neuen VO ist erklärbar. Die von der Bundesregierung angestoßene Abkehr von der Inzidenz – genauer gesagt: von der 7-Tage-Inzidenz – spiegelt den aktuellen Zeitgeist wider. Tatsächlich scheint es Sinn zu machen, Maßnahmen der Seuchenbekämpfung von Faktoren wie der Anzahl der an COVID-19 erkrankten Patienten in Krankenhäusern (Hospitalisierungs-Index) und der Anzahl der belegten Intensivbetten (Indikator „Intensivbetten“ in %) abhängig zu machen. Allerdings hängt die Intensivbettenkapazität nicht immer von der Pandemieentwicklung ab. Positiv: die VO berücksichtigt überwiegend epidemiologischen Faktoren. Problem: Gleichzeitig sollte aber auch die 3G-Regel mit einfließen. Diese wiederum basiert eher auf sozio-politische und verfassungsrechtlichen Faktoren, ein Ergebnis der Debatte über Grundrechte. Sie erhöht als zusätzliche Variable die Komplexität, war aber unvermeidbar.

Unterm Strich ist das in diesem Bericht vorgelegte Protokoll des Scheiterns auch Ausdruck einer Unsicherheit. Hat man alles genau genug gelesen? Gibt es Fehlschlüsse oder Denkfehler? Da hilft mir auch nicht Peter Ustinov: „Jeder Mensch macht Fehler. Das Kunststück liegt darin, sie dann zu machen, wenn keiner zuschaut.“ Letzteres kann ich leider nicht vermeiden.
Etwas steht jedoch zweifelsfrei fest: Es ist für Personen ohne Tagesfreizeit kaum noch machbar, sich durch den Wust der neuen VO mitsamt seiner Anhänge zu kämpfen, die es sehr genau nehmen mit den Details. Die 8-seitige Corona-VO in NRW ist aber keine Alternative. Der knappe Text erzeugt m.E. viele Fragen und gibt gleichzeitig nicht die passenden Antworten.

Dee neue Corona-VO des Landes Niedersachsen hat erneut eine kurze Lebensdauer. Sie endet am 22. September. Hoffen wir, dass dann nicht die Kriterien für die Warnstufen 2 und 3 nachgeliefert werden müssen.

Nachtrag: Als ich am Freitagmorgen die Zeitung aufschlug, wurde mir ein anschauliches und beweiskräftiges Beispiel für unerwartete Fehler in komplexen Systemen frei Haus geliefert. Es hatte Probleme bei der Übermittlung der Inzidenzzahlen an das RKI gegeben, sodass Stadt und Landkreis am Donnerstag plötzlich unter die 50er-Grenze rutschten. Auf die 3G-Regel in der Stadt Osnabrück hatte dies keinen Einfluss, denn die Bedingungen für das 5-Tage-Fenster waren erfüllt. Aber der Landkreis befand sich am Donnerstag erst im Tag 4. Allerdings soll dies keine Konsequenzen haben – ansonsten hätte der Zählvorgang im Landkreis wieder von vorne beginnen müssen.

Unerwartete Fehler in komplexen Systemen sind nichts Neues. Darüber diskutieren Systemtheoretiker bereits seit vielen Jahrzehnten. Ich will nicht zu tief in diese staubtrockene Materie eindringen. Aber man sollte schon wissen, dass Komplexität nicht auf Bäumen wächst, sondern eine Eigenschaft von Systemen ist, in denen nicht selten auch Menschen agieren. Und dort kommt es dann zu seltsamen Effekten wie Eigendynamik, Rückkoppelungen, unerwarteten Effekten (Emergenz: ein System ‚produziert‘ was, nicht mehr vollständig auf seine einzelnen Komponenten zurückverfolgt werden kann – in einigen Fällen kann man dann feststellen, dass Systeme sich selbst organisieren) oder anderen Merkwürdigkeiten, die für den Laien so abstrus klingen, als hätte Harry Potter seine Finger im Spiel.

„Tja, da ist wohl das Faxgerät kaputt gewesen“, könnte man sagen. Aber das ist zu einfach, aber tröstend, weil es suggeriert, dass alles nicht so kompliziert ist. Systemtheoretiker grinsen da nur. „Ein Regelungs-System muss mindestens genauso komplex sein wie das System, das es regelt“, sagen sie. Na denn…

Bildquellen: Land Niedersachsen

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