Unterschiedsspieler heben das ganze Team auf ein höheres Level
Was passiert, wenn ein Spieltag der Quarantäneliga mit einem Feiertag kollidiert? Erst recht dann, wenn Christi Himmelfahrt, Vatertag und Zuckerfest auf einen Tag fallen, an dem gleichzeitig das DFB-Pokal-Endspiel zwischen Dortmund und Leipzig ausgetragen wird?
Man kann man befürchten, dass es gerade für das kleine Team des SV Hellern schwierig werden könnte, überhaupt eine vollzählige Mannschaft an die virtuellen Bretter zu bringen. Ein breiter Kader bietet daher Vorteile. Aber ohne die Unterschiedsspieler sind größere Erfolge kaum denkbar. Welche Bedeutung sie haben, erklärt Reinhold Happe in seinem Gastbeitrag.
13. Mai 2021 – DFB-Pokal oder Lichess?
Doch aller Unbill des Kalenders zum Trotz waren die SVH-Schachenthusiasten schon zu Turnierstart vollzählig, was nicht allzu häufig vorkommt. Jeder brachte dafür seine privaten Opfer: Der eine spielte, vom virtuellen Vatertagsausflug inspiriert, nicht ganz nüchtern, dem anderen steckte die Spritze von der Impfung noch im Arm und last but not least verfolgte der bemitleidenswerteste BVB-Fan die erste Halbzeit nur im Liveticker. Wenn überhaupt! Doch was es da zu sehen gab, sorgte für zusätzliche Motivation im gesamten Team. Am Ende reichte es zum 3. Platz – und anders als beim Fußball droht nicht die Relegation, sondern der direkte Aufstieg ist erreicht!
Die Team-Performance belief sich auf 2270, aufgeteilt auf (und jetzt stellt sich bitte jeder Norbert Dickel am Stadionmikrofon in Dortmund vor):
- Mit der Performance von fast 2800: Hannes Ewert (10 Siege, 2 Remis aus 12 Spielen);
- mit der Performance von fast 2450: Ingo Gronde (10-3-4 aus 17 Spielen);
- mit der Performance von über 2320: Reinhold Happe (9-5-5 aus 19 Spielen);
- mit der Performance von fast 2500: Alexander Hoffmann (7-1-2 aus 10 Spielen);
- mit der Performance von fast 2550: Christian Böttcher (7-0-3 aus 10 Spielen);
- mit der Performance von fast 2370: Joachim Rein (8-3-6 aus 17 Spielen);
- mit der Performance von über 2100: Martin Hart (6-1-6 aus 13 Spielen);
- mit der Performance von über 2100: Dominik Suendorf (6-1-9 aus 16 Spielen);
- mit der Performance von über 2230: Christian Fiekers (7-1-8 aus 16 Spielen);
- mit der Performance von über 2150: Franz Ernst (7-1-9 aus 17 Spielen) und
- mit der Performance von über 1900: der Retter des letzten Spieltags – Alexander Travica;
- sowie Jochen Wagner und Jürgen Grosser.
Latejoiner oder Berserker? Gefährlich sind beide.
Warum schwankt die Anzahl der Partien eigentlich so stark? Nun, beim Online-Schach wird einfach nicht drauflos gespielt. Einige Spieler sind Tüftler, die mit legalen Mitteln ein Maximum von Punkten für ihr Team erzielen wollen. Dazu gehört der „Berserker-Modus“: wer die halbe Bedenkzeit wählt, erhält im Erfolgsfall einen Zusatzpunkt. Zudem werden die Partien schneller erledigt. Folglich erhöht sich ihre Anzahl.
Andere steigen verspätet ins Turnier ein. Diese Strategie wird „Latejoinen“ (dts. Absichtszuspätkommer, d. Red. :-)) genannt. Sie wird taktisch eingesetzt, um mit hoher Wahrscheinlichkeit in den ersten Runden auf leichtere Gegner zu treffen. In diesem Fall kann man vom „Streakmodus“ profitieren: ab dem 3. Sieg in Folge verdoppeln sich die Punkte für einen Erfolg. Eigentlich paradox: Jemand spielt weniger, erzielt aber mehr Punkte als sein Teamkollge.
Es braucht also neben schachlichem Können eine Menge an Erfahrung, um die optimale Punktzahl für sein Team zu erzielen. Dass wir als Team im letzten Jahr viel gelernt haben, zeigt unser dauerhafter Aufenthalt in Liga 3 und 4. Momentan rangieren wir sogar vor vielen namhafteren Mannschaften wie Deizisau und Dinslaken, die regelmäßig mit GMs und IMs an den Start gehen.
Doch der Traum von Liga 2 lebt weiter. Klar: dieser ist in Liga 3 einfacher zu verwirklichen als von Liga 4 aus, wie Joachim Rein scharfsinnig formulierte. Insofern ist unser Aufstieg eines Feiertags würdig. Wiederaufstieg und Pokalsieg für Dortmund: Was will man mehr?
Selbst wenn am Sonntag beim nächsten Turnier der vermeintlich übergroße Konkurrent aus Hannover, die Oberligafreunde von Lister Turm, auf uns warten, werden wir versuchen, unseren Traum in viele Punkte zu verwandeln.
Wer ist der Erling Haaland beim Online-Schach?
Um diese Herausforderungen meistern zu können, brauchen wir immer wieder herausragende Leistungen Einzelner, die das hohe Teamniveau auf ein noch höheres Level heben. Im Fußball werden diese als Leistungsträger oder neuerdings als Unterschiedsspieler tituliert. Die Unterschiedsspieler im Pokalendspiel waren Sancho und Haaland, unser Unterschiedsspieler war diesmal eindeutig FM Hannes Ewert, dem ich gerne ehrenhalber den Titel eines Super-GMs verleihen möchte, denn seine Performance von fast 2800 ist wahrlich nicht alltäglich. Vergleicht man unsere Platzierung von letzten Spieltag, als wir ohne Hannes nur ganz knapp den Klassenerhalt geschafft haben, mit dem aktuellen Aufstiegsplatz, wird deutlich, wie effektvoll ein solcher Niveauanstieg in einer ausgeglichenen Liga sein kann.
Doch wie erzielt man eigentlich eine 2800er Performance? Wer jetzt vermutet, dass Hannes eine 100%-Siegesserie gegen ratingschwächere Gegner erzielt hat, wird staunen: GM Thorsten Michael Haub (Elo 2426), GM Suat Atalik (Elo 2474) und Super-GM Amin Bassem (Elo 2701) schafften es ebenso wenig wie die FMs Sebastian Fischer (Elo 2344) und Andrija Obad (Elo 2221) den Helleraner Spitzenspieler in die Knie zu zwingen. Gerade einmal ein Remis gelang ihnen. Wer verstehen möchte, wie Hannes seine Gegner Haaland-like an sich abprallen ließ, erhält nun einen Einblick.
GM Haub – FM Ewert = 0-1
FM Ewert – GM Bassem = 1-0
FM Ewert GM Atalik = ½ – ½
Wer jetzt auf den Geschmack gekommen ist und selbst den Skalp eines Titelträgers ergattern möchte, kann dies an jedem Sonntag- und Donnerstagabend von 20.00 -21.40 Uhr versuchen. Einzige Voraussetzung ist hierfür eine Anmeldung im Online-Team des SV Hellern (https://lichess.org/team/sv-hellern) und die Zusicherung fair (d.h. ohne den Einsatz von Schachengines) zu spielen.
Nie war es leichter einem leibhaftigen Großmeister gegenüberzusitzen. So paradox es klingen mag, die Quarantäneliga macht die Welt kleiner und ermöglicht den Kontakt mit vielen Giganten der Schachszene. Carpe diem!
Reinhold Happe
Fotos: © Hellern-Archiv