Ist das Schach oder kann das weg?

Seit einem Monat (33 Tagen) sind alle Vereinsaktivitäten auf dem Vereinsgelände in der Klaus-Stürmer-Straße ausgesetzt. Alle Schachligen ruhen, ein Turnier nach dem anderen wurde abgesagt, und schließlich wurde das Kandidatenturnier gestoppt. Schach wird trotzdem gespielt, und die Teilnehmer hatten und haben überwiegend großen Spaß. Ein persönliches Zwischenfazit. Update

Wo auch immer die Schachbegesiterten des SV Hellern in diesen Wochen im Internet unterwegs sind: Die meisten treffen sich auf lichess.org, wo der SV Hellern derzeit 35 Mitglieder hat, vom Gründer supertenere bis zum jüngsten Mitglied Hectoreric.  Seit drei Wochen spielen wir nun schon auf dieser Plattform in der von Jens Hirneise gegründeten Quarantäne-Liga, und nach einigen Aufstiegen ging es jüngst erst einmal wieder abwärts, in die Vierte Liga. Wiederaufstieg war daher das Ziel für Sonntag Abend, an dem zwei Stunden mit der Bedenkzeit „5+0“, also 5 Minuten für die Partie ohne Zeitgutschrift für den einzelnen Zug, gespielt wurde. Und dies gelang, der zweite Platz in der Abschlusstabelle hinter dem Lider Chess Club aus Istanbul berechtigt zum Aufstieg.

Update am 16.04.: Artikel sollte man gut recherchieren. Danke Otto, für die Nachhilfe, denn meiner war/ist es nicht: Mittlerweile ist Hellern nicht nur aufgestiegen, sondern wird heute Abend gleich wieder aus der Dritten Liga absteigen. Die Hintergründe sind mir nicht genau bekannt, deshalb erlaube ich mir darüber lieber kein Urteil.

Während wir uns also nur kurz über den Aufstieg freuen konnten, spielten in der Quarantäne Bundesliga neben alten Bekannten wie dem HSK Lister Turm (angeführt von IM Ilja Schneider alias psammenitos) Mannschaften wie der spanische Vertreter pupilochess (mit 436 lichess-Mitgliedern!) oder Delfintherapie, eine Horde junger Wilder, die der Konkurrenz das Fürchten lehrt. Aber es wird nicht nur Schach gespielt, auch der mitlaufende Chat zeigt während des Ligabetriebs viel „traffic“. Ungewohnt für Schachspieler, deren Dasein am Brett in der Regel wortlos ist. Und diese Chats fördern – wie auch sonst! – mit aller Regelmäßigkeit das Schlechteste zutage. Beleidigungen und Herabsetzungen sind an der Tagesordnung, auch wenn es sehr viel gesitteter zugeht als in so manch anderen Foren.

Nun aber zur Titelfrage. Ist das noch Schach? Ich bin mir da nicht so sicher. Selbst 3+0 spielen jedenfalls scheidet für mich aus. Das macht Spaß, wenn man den Partieausgang ignoriert, aber Schach ist das – bei mir – ganz gewiss nicht. Andere dagegen zeigen erstaunliche Qualität in kürzester Zeit, da sieht es wirklich nach Schach aus. Wieder andere nutzen die Online-Formate offenbar für so etwas Hochgeschwindigkeitsexperimente. So ein bekannter deutscher Großmeister, der in der Dritten Liga offensichtlich einen Punkterekord anstrebte, bei 3+0 auf „Berserken“ schaltete und so jede Partie mit nur 90 Sekunden Bedenkzeit spielen musste. Am Ende kam er auf 92 Punkte. Rekord? Keine Ahnung. Aber Schach war das eher nicht.

Am Ende einer „Berserker“-Partie, wenn beide Kontrahenten nur noch wenige Sekunden Bedenkzeit haben, entscheidet die Geschicklichkeit. Nicht nur die mit der Maus, sondern vor allem die „Pre-Move-Stärke“: Führt man nämlich seinen nächsten Zug am Bildschirm aus, bevor der Gegner seinen Zug macht („pre move“), so wird dieser nächste Zug ohne Bedenkzeitverlust ausgeführt. Unglaublich, was man als Zuschauer dann erleben kann: Sinnlose Königsmärsche die Grundreihe entlang, hin- und herhüpfende Springer oder Damen, die nicht matt setzen, sondern nur schnell ziehen wollen. Ist das noch Schach? Nee.

Zurück zu den großen Könnern, und damit ein Blick auf eine andere Plattform: chess24 veranstaltet seit Monaten ein Banter-Blitz (=Geschwätzblitz) Turnier, das heute Abend ins Finale geht. Die Kontrahenten: Weltmeister Magnus Carlsen und Shooting Star Alireza Firouzja. Eine gute Geschwätzblitzpartie zeichnet sich dadurch aus, dass man als Zuschauer von dem schwätzenden Spieler Erklärungen erhält, in Echtzeit. Und diese ist in der Regel seehr kurz. Auch heute Abend heißt es 3+0, und wenn Carlsen so weiter macht wie bisher, wird er nicht nur extrem schnell und gut sein, sondern auch stets erklären, warum er gerade gut oder schlecht steht, was der gegner vielleicht gleich übersehen wird, was er übersehen hat, und natürlich warum er wieder gewinnt. Das sieht nach Schach aus und klingt auch so. Sein junger Gegner spielt (nahezu?) so stark wie Carlsen, zu erzählen geschweige denn zu erklären hat er allerdings ungleich weniger; aber er ist erst 16 und hat noch viel Zeit, auch das zu lernen. Update: Firouzja gewann denkbar knapp.

Manche Schach-Kommentatoren wollen uns weismachen, dass die Corona-Pandemie das Ende des „alten Schachs“ einläute: Kürzere Bedenkzeiten, mehr Online, und nicht mehr den ganzen Tag mit einer Partie (inklusive Hin- und Rückfahrt) verbringen. Zugegeben, eine Auswärtsfahrt nach Emden, Aurich, Bad Zwischenahn oder gar Uelzen tut richtig weh. Und vielleicht reicht auch vier Stunden für eine Partie statt sechs. Aber mit dem Rad in den Barenturm fahren, um dort Hellerns Fahnen zu vertreten und vom 8:0 im Derby zu träumen, dafür gibt es keinen Ersatz.

Womit wir schon wieder bei der Titelfrage sind. In der Frühzeit der Schachcomputer gab es Initiativen, Partien zu spielen, in denen die Meister mit Schachprogrammunterstützung gegeneinander antreten sollten, nach dem Motto „Möge das bessere Mensch-Maschine-Team“ gewinnen. Das ist heute undenkbar. Aktuell dürften ELO-Zahlen der stärksten Schachprogramm um die 3500 liegen – also ca: 700 Punkte mehr als die Weltspitze. Die Gewinnwahrscheinlichkeit beträgt bei diesem Unterschied ca. 99%. Der Mensch wäre hier wahrlich ein Juniorpartner. Heute kann also mit geringstem Aufwand – sogar kostenlose Engines sind sehr viel stärker als Meister – jeder Spieler unschlagbar werden – wenn er im Internet spielt und niemand beobachten kann, was er da tatsächlich tut. Die Betreiber der Schachplattformen begegnen diesem Problem mit großem diagnostischen Sachverstand, analysieren die gespielten Partien bei Verdachtsfällen und sperren Spieler, wenn deren Partien „zu perfekt“ sind. Aber solche Systeme sind nicht vollkommen, Unschuldige können zu Unrecht gesperrt werden und Schuldige davonkommen. Und ist das dann noch Schach? Nee, also echt nicht.

„Yeah, well, that’s just like your opinion man“ sagt der Dude. Recht hat er.