Es kann nur besser werden! Ein Neujahrswunsch.

Üblicherweise sind Neujahrswünsche ein unaufgeregtes Ritual, das keine Überraschungen zu bieten hat. Auch in Schachvereinen nicht, denn alle stecken normalerweise mitten in der Mannschafts-Saison und können erst im Frühjahr eine Bilanz ziehen. Aber alle wünschen sich zum Jahreswechsel viel Erfolg und natürlich auch viel Gesundheit. Nun ist alles anders und das mit der Gesundheit ist längst keine Floskel mehr.

Risikoanalysen

Keiner war darauf vorbereitet. Als im Dezember 2019 in Wuhan die ersten Fälle von SARS-CoV-2 auftauchten, wollte niemand glauben, dass sich eine globale Ungeheuerlichkeit über den ganzen Planeten verbreiten würde. Die WHO brauchte fast ein Vierteljahr, um das Virus mitsamt seiner Krankheit Covid-19 am 11. März als Pandemie einzustufen.

Bereits im Februar suchten die Menschen nach Orientierung, denn Corona stand vor der eigenen Haustür. In Italien waren die ersten Menschen am Virus gestorben. Der Virologe Alexander Kekulé erkannte die Gefahr und schrieb am 15. Februar in der ZEIT: „Aufgrund der hohen Ausbreitungsgeschwindigkeit und der Tatsache, dass auch Infizierte mit geringen Symptomen offenbar ansteckend sind, würde es an ein Wunder grenzen, wenn sich eine weltweite Ausbreitung des Virus noch verhindern ließe.“ Und nur zwei Wochen später prognostizierte Christian Drosten, einer der weltweit führenden Virologen, bei Maybrit Illner, dass sich 60 bis 70 Prozent der Deutschen infizieren könnten, während unser Gesundheitsminister das Risiko für den Einzelnen als „gering bis mäßig“ einschätzte.

Über die Bescheidenheit

Recht hat, wer Recht behält. Im Nachgang ist sowieso alles einfacher. Man weiß ja, was passiert ist. Ganz zu Beginn der Pandemie war aber das heillose Durcheinander zumindest menschlich verständlich. Trotzdem gab es nicht nur zu Beginn dieses denkwürdigen Jahres ein Handgemenge zwischen Nichtwissen und wissenschaftlicher Kompetenz. Und als Dritter im Bunde gesellte sich die gezielte Desinformation hinzu. So nahm sich ein bekannter Satiriker noch vor wenigen Tagen die Freiheit zu behaupten, dass Christian Drosten zu Beginn des Jahres die Gefahr unterschützt habe.

Dabei hätte man beim Philosophen Karl Popper etwas lernen können. Der schrieb in seinem Buch „Auf der Suche nach einer besseren Welt“ etwas über die intellektuelle Bescheidenheit seines Kollegen Sokrates. Von dem stammte die Erkenntnis „Ich weiß, dass ich fast nichts weiß, und kaum das.“ Sokrates hatte nämlich bereits vor über 2000 Jahre die Erfahrung gemacht, dass es Menschen gibt, die über bestimmte Dinge viel wussten, nun aber glaubten, über alles andere auch alles zu wissen.
Es gibt halt Dinge, die sich nie ändern.

Trotzdem: der Desinformation stemmte sich die Lernbereitschaft vieler entgegen. Und obwohl sich nicht wenige von den etablierten Medien abwandten, um sich in dubiosen YouTube-Kanälen über das von Bill Gates geplante „Chippen“ zu informieren, blieb ein Großteil besonnen und hielt sich an die Regeln. Und lernte dabei Vokabeln wie „Lockdown“, „Reproduktionsrate“, „Antigen-Test“, „FFP2-Maske“, „PCR-Test“ und „Social Distancing“, während ein veganer Koch Antisemitismus predigte und der amerikanische Präsident seinen Bürgern nahelegte, sich Desinfektionsmittel zu spritzen.

Wie der Phönix aus der Asche – das digitale Comeback des Schachs

Auch den SV Hellern erreichte die Plage. Am 7. März meldeten wir auf unserer Website einen Teilnehmerrekord beim Jugend-Blitzcup. Wenige Tage später feierten unsere Jugendmannschaften die Meister- und Vizemeisterschaft.

Am 13. März war dann aber Schluss. Der Spielbetrieb wurde vom Niedersächsischen Schachverband ausgesetzt und zeitgleich machte der SV Hellern dicht: „Sportverein geschlossen“ war auf der Vereins-Website zu lesen. Gerade rechtzeitig, um unsere Vereinsmeisterschaft abzublasen. Daran änderte sich nicht mehr viel, obwohl unsere Schachabteilung danach gute Hygienekonzepte entwickelte und sogar einige Veranstaltungen anbieten konnte. Mit Masken. Nach einem glimpflich verlaufenden Sommer wurde der Ruf nach Normalität immer lauter. Keiner wollte etwas von einer zweiten Welle hören, der NSV schloss mit hohen Ausfallquoten die Spielzeiten in den Verbands- und Landesligen und bot Überbrückungsligen an. Doch Überbrückungsschach wurde bis heute nicht gespielt, denn die zweite Welle entlud sich mit ungeheurer Wucht und marginalisierte die Infektionszahlen des Frühjahrs mit lockerer Hand.

Stattdessen wurde in der Presse die Wiederauferstehung des Schachs gefeiert. Online-Schach wurde zum Ausweg aus der Tristesse. Auch Helleraner nahmen fleißig an Lichess-Veranstaltungen teil und trugen vor wenigen Tagen sogar das obligatorische Weihnachtsblitzturnier auf dem Server aus. Nie war es so stark besetzt.
Aber trotz dieser spektakulären Entwicklung sollte keiner vergessen, was ein Schachfreund beklagte: das gemeinsame Bier während und nach Mannschaftswettkämpfen, die Gespräche, das Miteinander. All das würde ihm fehlen.
So schön die Digitalisierung unseres Sports die schlimmen Monate verkürzte – es blieb letztendlich doch eine besondere Form des Social Distancing. Aber auch hier galt: wenig ist besser als nichts.

Das Verschwinden der Gewissheiten

Und die kommenden Monate?
Was alle lernen mussten, lässt sich mit einem Wort auf den Punkt bringen: Ungewissheit. Die Inzidenzwerte wollen nicht sinken, der Lockdown wird wohl verlängert, es sterben zu viele Menschen. Nicht nur in den Altenheimen. Und die Halbwertzeitzeit der Prognosen fällt ins Unermessliche.
Wirtschaftlich, kulturell und sozial ist dies eine Katastrophe. Aber auch emotional, denn die meisten Menschen wollen eben keine pausenlosen Veränderungen. Sie lieben ihre Gewohnheiten. Sie wollen planen können. Sie wollen, dass die neue Schachsaison pünktlich beginnt und nicht etwa eine Woche später.
Vermutlich ist das Verschwinden dieser Gewissheiten das Schlimmste für alle, die bislang gut durch die Pandemie gekommen sind. Die unmittelbar Betroffenen haben da ganz andere Sorgen. Sie haben Familienmitglieder und Freunde verloren und mit „Long Covid“ ist ein neuer Begriff aufgetaucht, der wenig Gutes verheißt. Aber das macht den Wunsch nach Normalität nicht zu einer unbilligen Träumerei.

Man mag sich angesichts der gerade begonnenen Impfungen nicht vorstellen, dass das 2021 so übel wird wie das letzte Jahr. Und schon gar nicht will man etwas von einer dritten Welle hören. Ich selbst bin fest davon überzeugt, dass die Zeiten besser werden. Sie werden anders sein, aber besser. Und ich glaube auch daran, dass am Ende des Neuen Jahres 2021 auch wieder Präsenzschach gespielt werden wird.

Doch keiner kann es wissen.

Irgendwann werden kluge Köpfe etwas über die Phänomenologie der Corona-Plage schreiben. Die Sozialtheoretikerin Katharina Block hat es bereits getan. Sie sieht den Menschen der Moderne als Erfahrungstyp, der eine Haltung des grenzenlosen Verfügen-Könnens über sich und die Welt entwickelt hat. Zweifellos eine Illusion. Aber für Block ist die Corona-Pandemie auch deshalb ein Phänomen des Unverfügbaren, weil es bewährte Orientierungen aushebelt und unsere Handlungsfähigkeit unterminiert.

„Dennoch bietet die Pandemie zugleich die Gelegenheit Neues zu wagen“, schreibt Block. Aber dazu müsse man die eigenen Grenzen erfahren, bevor man sie überschreiten kann.

Ich denke, dass dies ein passender Neujahrwunsch für uns alle ist. Und so wünscht die Redaktion von schach-hellern.de allen Schachfreunden das denkbar Beste im neuen Jahr 2021.