Oberliga: Wir hatten keine Chance, aber die haben wir genutzt

„Das Wunderbarste an Wundern ist, dass sie manchmal wirklich geschehen“ (G.K. Chesterton). Der bekannte Krimiautor wird es wohl geglaubt haben, immerhin machte er in seinen Romanen mit Pater Brown einen Geistlichen zu einer klassischen Ermittlerfigur. Auch im vermeintlich berechenbaren Schach gibt es Wunder, nur fehlte wohl einigen vor der Reise nach Tostedt der rechte Glaube. Warum es dann doch geschah, davon berichtet Jörg Stock nicht ganz ironiefrei  in seinem Gastbeitrag. Update.

 

Unser Gastautor Jörg Stock (Archivfoto)

Die Vorzeichen für die weiteste Auswärtsfahrt dieser Saison nach Tostedt waren denkbar schlecht. Gleich vier Stammspieler mussten ersetzt werden, was zu einer regelrechten Plünderung der Zweiten führte. Mit den drei kampferprobten Haudegen Wolfgang, Hajo und Franz und dem Debütanten Patrick konnten wir aber eine schlagkräftige Truppe zusammenstellen. Nachdem kurzfristig der Bulli ausgefallen war, mussten wir die Fahrt mit zwei Pkw antreten. Franz nahm die Doppelbelastung (Fahren und Spielen) auf sich und Hartmut erklärte sich erfreulicherweise bereit, statt des Bullis (wie geplant) mit seinem privaten Pkw zu fahren.

Strenge Hierarchie: der Schlüssel zum Erfolg!

Bei der Aufteilung der Spieler auf die Autos wurde aber gleich streng auf die Hierarchie in der Mannschaft geachtet. Während die Bretter 1-3 sich komfortabel mit eigenem Chauffeur in einem Modell eines deutschen Premium-Herstellers kutschieren lassen durften, mussten sich die Bretter 4-8 in ein Gefährt aus dem Land des Billy-Regals quetschen.
Da die Abfahrtszeit (8.00 Uhr) nicht an die geänderte Fahrzeugwahl angepasst wurde (böse Zungen behaupten, dass dies vom organisierenden Mannschaftsführer aufgrund seiner Vorliebe für kleine weiße Röllchen bewusst so beibehalten wurde), war noch genügend Zeit für ein kleines Frühstück. Aber auch hier zeigte sich wieder die bereits erwähnte Zweiteilung in der Mannschaft. Die Bretter 4-8 mussten sich bei strömendem Regen mit einer schnöden Autobahnraststätte zufriedengeben (das Rührei soll allerdings gut gewesen sein), die Spitzenbretter konnten dagegen, bereits am Zielort eingetroffen, beim ersten Bäcker am Platz ein üppig belegtes knuspriges Brötchen und einen frisch aufgebrühten Kaffee genießen.

Unser Matchplan bestand darin, dass wir keinen hatten

Pünktlich am Spielort eingetroffen war die Stimmung daher recht gut und konnte auch nicht getrübt werden, als Tammo nach Studium des Meldezettels verkündete, dass bei Tostedt die Bretter 1-5 komplett antreten würden, also auch alle 4 ungarischen Meister. Somit waren wir an allen Brettern außer an 8 nominell schwächer bis deutlich schwächer besetzt. Unser Matchplan bestand darin, dass wir keinen hatten, jeder sollte einfach sein Bestes geben. Eine 2:6 Niederlage wäre sicherlich ein normales Ergebnis, Druck war also nicht zu spüren, wozu sicherlich auch der Auftaktsieg gegen Nordhorn nicht unwesentlich beitrug.

Nach dem ersten Rundgang konnte ich feststellen, dass wir zumindest die Eröffnungen schon mal recht gut überstanden hatten. Keine hatte so richtig danebengegriffen und bei Wolfgang, der eine seiner vielen Spezialvarianten aufs Brett brachte, und bei Patrick, der seinen Gegner mit einem Gambit überraschte und schnell einen beachtlichen Zeitvorteil generierte, hatte ich schon ein positives Gefühl. Und auch Ingo´s Bauernopfer machte mich nicht nervös, da es so schnell und überzeugend aufs Brett gebracht wurde, dass es eine (außer mir) bekannte Variante sein musste.

Dr. Ingo Gronde

Versetzen wir uns kurz in die Lage der Tostedter. Warum sollte man als klarer Favorit an 7 der 8 Bretter nicht mit Schwarz gegen den besten Spieler der gegnerischen Mannschaft ein schnelles Remis machen? Keine Ahnung, also Remis an Brett 1 nach ca. 10 Zügen.
Das passte auch in unseren Matchplan. Wie bereits erwähnt spielte Ingo ein Bauernopfer für schnelle Figurenentwicklung. Zunächst spielte der mit einem GM-Titel ausgestattete Gegner so schnell, dass einem etwas mulmig werden konnte, aber Ingo blieb wie immer äußerst cool, was zur Folge hatte, dass auch der GM nicht immer die besten Züge fand und vor allem zeitweilig in tiefes Nachdenken verfiel.
Offenbar im richtigen Moment plazierte Ingo – weiterhin mit Minusbauer – aber in nun angesichts der Restbedenkzeit komplizierter Stellung ein Remisangebot, was der GM auch akzeptierte. Wieder eine starke Partie von Ingo.
(Mittlerweile hat die Partie auch unsere Redaktion erreicht. Ein spektakulärer Theorie- und Endspielduell, das wir leider nur stark gekürzt vorstellen können, da Ingo diese Variante garantiert nicht aus dem Repertoire nehmen wird: Nachspiellink.)

Hajo hatte dem Gegner in einem Damenindischen Aufbau einen Doppelbauern in der c-Linie verpasst und behielt auch bei diversen Scharmützeln am Königsflügel den Überblick. So kam es auch hier zur Punkteteilung. Vielleicht war für Hajo zwischenzeitlich sogar mehr drin, aber ein weiteres Schwarzremis war absolut in Ordnung.

Ernst – Wokittel 6…g7-g6

Nun kam der Moment, in dem uns dämmerte, dass hier vielleicht sogar was zu holen ist. Denn unser Fahrer Franz setzte in seiner gewohnt unaufgeregten Art seinen Gegner in einem geschlossenen Franzosen gleich an beiden Flügeln unter Druck, so dass dieser nicht so recht wusste, wohin sich sein König orientieren sollte. Also beließ er ihn in der Mitte. Wie die Partie zu Ende ging, entzog sich leider meiner Aufmerksamkeit, aber am Ende stand ein ganzer Punkt. Gratulation! Nachspiellink

Es gab auch Rückschläge. Tammo kam eigentlich vernünftig aus der Eröffnung und baute sogar einiges Gegenspiel auf. Am Ende setzte sich der IM durch. Nachspiellink.
10…Sf6-d7

Auch hier konnte ich die entscheidende Partiephase nicht mitverfolgen, da mich meine eigene Partie zu sehr beanspruchte. Diese begann eigentlich recht gut. Im Paulsen-System wählte mein Gegner im 8. Zug eine eher drittklassige Fortsetzung und im 10. Zug eine Neuerung, wonach Weiß sicherlich das bessere Spiel haben sollte.
Leider hatte ich die Stellung überhaupt nicht verstanden und war viel zu euphorisch. Ich dachte wohl, nach meinen guten Partien beim Vienna-Chess-Open gegen starke FMs könnte ich nun auch einen IM im Hurrastil vom Brett fegen. Aber weit gefehlt. Ein viel zu optimistisches Bauernopfer zerpflückte mir der Ungar trotz knapper Zeit in wenigen Zügen. Nachspiellink.
Ein klarer Sieg für die Tostedter. Und so stand es nach der Zeitkontrolle dann doch 2,5:3,5 gegen uns.

Kriegt Wolfgang seine Freibauern ans Laufen?

Allerdings gab es in den beiden verbliebenden Partien durchaus noch berechtigte Hoffnungen. Patrick hatte zwar, nachdem sich sein Gegner doch noch recht gut aus der Gambiteröffnung befreit hatte, die Qualität eingebüßt, konnte aber im Endspiel mit einem weit vorgerückten Freibauern noch einigen Druck aufbauen. Der Gegner ließ sich aber nicht beirren, gab die Qualität im richtigen Moment zurück und das entstandene Turmendspiel wurde bald Remis.

Jetzt kam alles auf Wolfgangs Partie an. Der hatte aus der Eröffnung heraus starkes Spiel entwickelt, dann aber eine taktische Abwicklung ungenau durchgeführt. So war ein Endspiel mit Dame und drei Mehrbauern für Wolfgang gegen Turm, Springer und Läufer entstanden (den Kiebitzen zu Folge hätte man das Endspiel auch ohne den Läufer beim Gegner erreichen können, sei´s drum).

Wolfgang Andre (Archivfoto)

Die Frage war nun, ob Wolfgang seine Freibauern ans Laufen kriegen könnte. Da zu diesem Zeitpunkt aus Tostedter Sicht die Partie an Brett 8 noch nicht sicher Remis war, wollte Wolfgangs Gegner ebenfalls auf Gewinn spielen. Dafür gab er die Blockade der Bauern kurze Zeit auf. Da ließ Wolfgang sich natürlich nicht zweimal bitten und nutzte diese Ungenauigkeit des Gegners gnadenlos aus. Die Bauern kamen ans Laufen und waren nur noch durch Materialopfer zu stoppen. Mit sicherer Technik konnte Wolfgang den vollen Punkt gegen den FM sicher stellen.
Grandios. Nachspiellink

Angesichts der bisherigen Ergebnisse in der Liga könnte dieser Punkt nochmal Gold wert sein. Die nächsten Spiele gegen Hannover und Hameln sind richtungsweisend und vielleicht können wir Weihnachten schon den Klassenerhalt feiern. Die bisherige Mannschaftsleistung in dieser Saison ist auf jeden Fall beeindruckend. Von den 16 Partien wurden bisher nur 3 verloren, und das nur gegen Internationale Meister. Die müssen´s also schon sein.

Tabelle nach Runde 2

Die Rückfahrt war im Übrigen weniger angenehm. Eine volle Autobahn und Dauerregen waren wenig erbaulich. Kurz vor 19.00 Uhr waren wir wieder in Osnabrück. Für die außerhalb von Osnabrück Wohnenden hat der Spaß also rund 12 Stunden gedauert. An alle an dieser Stelle nochmal einen großen Dank. Besonders sind aber Franz (vexi– lusi– vici; für die Lateiner), Wolfgang (Organisation und Matchwinner) und Hartmut (Fahrer und Maskottchen; saisonübergreifend weiterhin ungeschlagen, wenn er fährt) zu erwähnen.

Jörg Stock

Fotos: © Hellern-Archiv 2018