Um absurde Antworten zu erhalten, fragte man früher Radio Eriwan. Heutige Schachinteressierte aus dem Nordwesten fragen das Online-Portal des NSV nach den Ergebnissen aus den Landes- und Verbandsligen. Und stoßen auf das Spitzenduell der Landesliga Nord, Tostedt gegen Lilienthal, oder auf Kirchweyhe in der Verbandsliga Nord. Ein aktueller Blick in die Liegen unter dem Motto: Neues aus Absurdistan.
Es sei hier vorweg genommen, dass der Autor dieser Zeilen kein Insider ist, nie gut Schach gespielt hat und die allermeisten Meister nur aus Ergebnislisten kennt. Ich habe also keine Ahnung von der Welt der GMs und IMs. Ob das also normal ist, was gerade in den Ligen im Nordwesten passiert, weiß ich nicht. Aber es sieht schon ein wenig absurd aus. Absurdistan spielt diesmal aber nicht auf bürokratischen Unsinn an, sondern auf kaum zu glaubende Leistungsunterschiede in den Ligen des Nordwestens.
Vor 1970 geborene wissen noch, dass man das Absurde früher unter anderem bei Radio Eriwan erlebte. Das Muster der kommunistischen Witze war etwa dieser Klassiker:
„Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass Iwan Iwanowitsch in der Lotterie ein rotes Auto gewonnen hat? – Antwort: Im Prinzip ja. Aber es war nicht Iwan Iwanowitsch, sondern Pjotr Petrowitsch. Und es war kein rotes Auto, sondern ein blaues Fahrrad. Und er hat es nicht gewonnen, sondern es ist ihm gestohlen worden. Alles andere stimmt.“
(Aus: Alexander Drozdzynski: Der Politische Witz im Ostblock, zitiert nach dem Wikipedia-Artikel „Radio Jerewan“)
Stellen wir also ebenfalls eine Frage: „Stimmt es, dass sich der Aufsteiger aus der Oberliga Nordwest nur schwer in der Zweiten Bundesliga Nord halten kann?“ Antwort von Radio Absurdistan: „Im Prinzip ja. In dieser Saison könnte es sogar neben dem Aufsteiger Oldenburg auch Bremen 2 (Aufstieg 2015) erwischen, und auch in den vergangenen Spielzeiten stieg der Aufsteiger aus der Oberliga Nordwest meist wieder ab. Aber in diesem Jahr steigt Lingen auf, die können sich halten. Und im nächsten Jahr Tostedt, die auch. Und im übernächsten Jahr Kirchweyhe, die auch. Oder Lilienthal, die auch. Und danach Lilienthal. Oder Kirchweyhe. Aber der Rest stimmt.“
Was ist da los? Am vergangenen Wochenende, an dem unsere stark ersatzgeschwächte Erste in Lingen unter die Räder kam und gegen das Großmeisterteam um Lev Gutman fast alle Partien verlor (fast! Thorben! Thorben! Thorben!), kam es zum Aufstiegsduell in der Landesliga Nord, MTV Tostedt gegen SF Lilienthal. An den 16 Brettern saßen ein titelloser Spieler (mit einer DWZ von 2281), sieben Großmeister, sechs Internationale Meister, eine Frauengroßmeisterin und ein FIDE-Meister. ELO-Durchschnitt: 2466 (Tostedt) gegen 2418 (Lilienthal). Das Duell ging 4,5 : 3,5 zu Gunsten des MTV Tostedt aus (Ergebnisse auf nsv-online), der damit den Aufstieg in die Oberliga Nordwest fast sicher hat.
Lilienthal bleibt nur der zweite Platz und die Aussicht, in der kommenden Saison – vielleicht wieder nicht aufzusteigen. Denn dann kommt wohl der SK Kirchweyhe in die Landesliga Nord, der Tabellenführer der Verbandsliga Nord (Ergebnisse ebenfalls auf nsv-online). Kirchweyhe spielte am Wochenende mit fünf Großmeistern, zwei FIDE-Meistern und einem normalsterblichen Verbandsligaspieler gegen die Findorffer SF und gewann 8:0. Der ELO-Durchschnitt der Mannschaft betrug am Wochenende 2394, wobei der an Brett 8 eingesetzte Tostedter diesen Schnitt um fast 100 Punkte senkte.
Wie stark diese vier Mannschaften, Lingen, Tostedt, Lilienthal und Kirchweyhe, sind, sieht man im Vergleich: Lingen in der Oberliga ging gegen unsere Erste mit einem ELO-Schnitt von 2391 an die Bretter, die Top vier Spieler hatten 2513. Tostedt brachte es an den ersten vier Brettern auf 2554, Lilienthal auf 2513, Kirchweyhe auf 2534. In der Zweiten Bundesliga Nord gibt es nur eine einzige Mannschaft mit einem besseren Schnitt an den ersten vier Brettern, den Tabellenführer Kiel mit 2573. Über die gesamte Mannschaft ist Kiel ebenfalls stärker als die vier aus Absurdistan, hier stehen für Kiel 2513 zu Buche. Dagegen ging die abstiegsgefährdete Zweite von Werder Bremen zum Beispiel mit einem Elo-Schnitt von 2356 an die Bretter, und selbst Bundesligisten können da kaum mithalten: Der Tabellenletzte der Ersten Liga, Norderstedt, kam am Wochenende auf 2381, also etwa auf das Lingener Niveau, Bayern München auf 2422, der Aufsteiger Hofheim auf 2456 und man muss schon ins Tabellenmittelfeld schauen, etwa zu den Dresdnern, um eine klar stärkere Mansnchaft als die vier zu finden.
Man darf gespannt sein, wie sich die Situation entwickelt. Stand heute jedenfalls wird aus der Oberliga Nordwest ein Aufsteiger nach dem anderen in die Zweite Liga gehen und dort bleiben – oder sogar in die Bundesliga aufsteigen. Wir haben bei alldem einen Platz auf der Bühne, wir dürfen zuschauen und einige von uns dürfen sich mit den Großmeistern messen. Spannend wird es vielleicht nicht, aber vielleicht sind wieder Partien dabei wie die von Thorben Weist gegen Lev Gutman (Bericht folgt), oder die von Joachim Rein aus dem vergangenen Jahr gegen IM Gajek (zum Bericht). Frage an Radio Eriwan: „Stimmt es, dass die nordwestdeutsche Schachszene am Abgrund steht?“ Antwort: „Im Prinzip ja, aber wir sind bereits einen Schritt weiter.“