Oberliga: Einmal Duisburg – Hellern – Hameln und zurück

Der Sonntag beginnt relativ früh, um den Mannschaftsbus in Hellern (anvisierte Abfahrtzeit: 09.15 Uhr) zu erreichen. Gedanken, ob man dem richtigen Hobby nachgeht, bleiben nicht aus. Da kurzfristig Jörg Stock die Absagen von Alexander Hoffmann und Christian Böttcher auf 3 hochschraubt, ist der Optimismus, einen Auswärtssieg landen zu können, gedämpft. Und dafür 5-6 Stunden Autobahn, mehr Zeit als ich vermutlich am Brett verbringen werde? Wie verrückt bin ich bzw. wie schachverliebt sind wir eigentlich? Gut, dass der morgendliche Dämmerzustand keine eindeutigen Antworten verlangt. Ein Gastbeitrag von Reinhold Happe.

 

Der Mut der Verzweifelten

Gastautor R. Happe

Endlich ist der startbereite Bus in Hellern erreicht: In Anlehnung an einen Skireporter bei der der Winterolympiade 1980 bleibt nur die Frage: “Wo ist Lehmann?“ Hiobsbotschaften zufolge in Ibbenbüren. Zum Zeitvertreib machen Anekdoten über die besten Verspätungen die Runde. Selbst der frisch gekürte Schnellschach- und Blitzweltmeister Magnus Carlsen erschien zur ersten Runde der Blitz-WM zu spät. 30 Sekunden Restbedenkzeit reichten ihm aber, um im Jogginganzug den vollen Punkt zu erzielen. Das brachte ihm zwar einen Rüffel wegen eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung ein, seinen Erfolg verhinderte es aber nicht. Als Holger dann sogar in Sonntagskleidung erscheint, sind die Vorzeichen auf Erfolg gestellt. Die Stimmung im Bus ist gelöst. Schließlich haben wir noch nie gegen Hameln gewonnen. Wir können also nur gewinnen! Vielleicht ist es einfach der Mut der Verzweifelten?

Bald FM? Dr. Ingo Gronde

Mit Holger wird der Mannschaftsbus zum Analysezentrum verwandelt. Laptop raus, Schachbrett aufgeklappt, Varianten aufgerufen. Durch den kurzfristigen Ausfall von Jörg muss die Vorbereitung angepasst werden. Schnell weicht der Tiefgang in den Analysen den Erinnerungen an Heldentaten vergangener Jahre. Wer hat welchen Titelträger mit welcher Variante einen Punkt abgeknöpft? Da kommt ganz schön was zusammen. Ingo versucht verzweifelt, seinen Sieg gegen GM Kupreichik zu präsentieren, doch dem Mann am Schaltpult kommen immer wieder eigene Glanztaten dazwischen. Als dann kurz vor Hameln endlich Ingos Wunsch erfüllt wird – die Partie ruft er selbstverständlich einfach aus dem Gedächtnis auf – bleibt uns nur ein Staunen.

Ins Leere laufen lassen…

So inspiriert und motiviert geht es in den Wettkampf. Doch der Blick auf die Paarungsliste verrät, dass Hameln – wie fast alle unsere bisherigen Gegner – in Bestbesetzung, also mit den Bretter 1-8, antritt.

Lewin-Renner: 9. h6!

Die Favoritenrolle ist also vergeben, uns bleibt die Hoffnung, mit unserer Aufstellung zumindest die Hamelner Vorbereitungen ins Leere laufen zu lassen.
Dies scheint tatsächlich zu gelingen, denn nach der Eröffnungsphase deuten sich durchaus einige hoffnungsvolle Stellungen an. Holger an Brett 2 hat sich von Ingos Busanalyse inspirieren lassen, zaubert Kupreichiks Ld7 auf ’s Brett und steht kurz darauf riesig. Tammo Lewin geht an Brett 3 ambitioniert gegen die Holländische Verteidigung seines Gegners vor. Sein h-Bauern stürmt direkt auf die gegnerische Grundlinie zu (Diagramm).

 

Gronde – Bode: Stellung nach 20…Sd2. Und nun?

Derweil baut Käpt´n Locke Hart an Brett 6 seine Traumstellung gegen den gegnerischen Nachwuchsstar A.G. Poschadel auf. Können wir tatsächlich auf Sieg spielen? Schon deutlich vor der ersten Zeitkontrolle verstärkt sich die gute Ausgangslage. Ingo Gronde bringt den Hameler Titelträger FM Bode zur Strecke. Eine kleine taktische Falle Diagramm), die der Hamelner zwar erkennt, aber dabei einen Zwischenzug verkennt. Dies bringt Hellern 1-0 in Führung! Mister 100 Prozent bleibt Mister 100 Prozent. Ingos weiße Weste mit 4 Siegen aus 4 Partien dürften ihn jetzt selbst zum Titelträger machen. Er hat es wahrlich verdient. Herzlichen Glückwunsch, Ingo!

Siegermentalität und andere Ungereimtheiten

Von Ingos Siegermentalität inspiriert und durch einige Ungereimtheiten meines Gegners Yannick Koch begünstigt, kann ich zum 2-0 erhöhen. Manchmal spielt sich eine Partie von ganz allein und für den Gegenüber läuft nichts (Diagramm links). Diese Erfahrung musste ich in dieser Saison gegen Werder Bremen selber machen.
Als Hajo dann an Brett 6 ein Remisangebot von Jan Helmer erhält, nimmt er trotz besserer Stellung an. (Diagramm rechts). Zu kompliziert erschien ihm die Gewinnführung, da er bereits am Vortag mehrere Stunden am Schachbrett verbracht hatte. 2,5-0.5.

Suendorf – van Son: 16…h3!
Dominik Suendorf

Leider musste etwas später Dominik Suendorf an Brett 7 eine spektakuläre Partie mit viel Kampfschach aufgeben (Diagramm). Der Hamelner Lutz van Son pflegt einen ähnlichen Spielstil wie Dominik und beide ließen die Zuschauer auf ihre Kosten kommen. Kurze Rochade gegen lange Rochade, Sturm am Damenflügel gegen Sturm am Königsflügel. Spektakel pur, nur leider mit unglücklichem Ende für uns.

Die Stunde der Endspiele

Hart-Poschadel: 45.Txg6 Sxg6 46.Dxg6

Doch der Hamelner Anschlusspunkt zum 2,5-1,5 wird durch Lockes Glanzpartie wieder in ein 3,5-1,5 verwandelt. In der Diagrammstellung war zuvor 44. Kg7 geschehen.
A.G. Poschadel fand keinen Plan gegen die Leib- und Magenvariante des Helleraner Mannschaftsführers. Ihm gingen letztlich alle aktiven Möglichkeiten aus. Dies nutzte Locke souverän aus. Die vielen jugendlichen Gegner beim Berliner Open waren wohl genau das richtige Training um den Hameler 100%-Spieler zu knacken. Nicht zuletzt beweist damit die Helleraner Ü60-Mittelachse gegen die U20 der Gastgeber, dass die Weisheit des Alters in unserem Sport die jugendliche Dynamik noch ausbremsen kann. Auch ein reizvoller Aspekt im Schachkosmos.

Doch dann schlägt die Stunde der Endspiele. Es sind eigentlich Stunden, denn aufgrund der Inkrementregeln verlängert sich pro Zug die Bedenkzeit am Brett um eine Minute. Für die Spieler ist dies gefühlt sehr wenig, für die Zuschauer dehnt sich die Zeit ins Unendliche. Tick-tack. Die Stellungen an den Brettern 2, 3 und 8 verändern sich nur marginal. Tick-tack. Klar ist, dass Tammo Lewin unsere Hoffnung auf den Mannschaftssieg ist, während Jürgen Grosser an 8 und Holger Lehmann an 3 um ein Remis kämpfen. Tick-tack.

Schmidt – Grosser nach 46.Lc6. Wie gewinnt Weiß?

Dann reißt Jürgen als Erstem der Geduldsfaden (Diagramm 8). Den Auswärtssieg vor Augen lehnt er einen remisträchtigen Übergang in ein Damenendspiel ab, übersieht dabei aber, dass dies seine letzte verbliebene Leichtfigur kostet. Schade. Das Damenendspiel wäre trotz Minusbauern sehr interessant geworden, da Jürgen den entfernten Freibauern seines Gegners durch einen vorgerückten Zentrumsbauern kompensieren konnte, was auch seinen zähen Verteidigungskampf belohnt hätte. Nur noch 3,5-2,5.

Tammo Lewin

Jetzt spitzt sich Tammos Endspiel zu. Nachdem er in ein Endspiel mit Turm gegen Springer übergeleitet hat, muss jeder Zug sitzen, da Kai Renner einen Mehrbauern als kleinen Ersatz für die Qualle besitzt. (Diagramm links). Plötzlich stößt einer dieser Bauern auf die vorletzte Reihe vor und das Zittern bei den Zuschauern beginnt. Schafft Hameln wie schon so oft die Wende? Im rechten Diagramm hatte Kai Renner 52. Sd4-e6 gespielt.

 

Gut, 53. e3 remisiert, Gewinn also verpasst. Doch Tammo bleibt cool und leitet in ein Endspiel mit zwei Bauern und aktiver Königsstellung gegen Springer über, s. Diagramm nach 55. Ke5. Ist das gewonnen?

Fast alle im Spiellokal gehen von Tammos Sieg aus, doch der Hamelner Teamchef kämpft. Und dann geschieht Unglaubliches. Durch eine studienhafte Wendung rettet Kai Renner tatsächlich den halben Punks (Diagramm). Nach 67…Sc7 ist es Remis! Nun steht es 4-3. Doch damit ist zumindest das Mannschaftsremis sicher.

Nerven wie Stahlseile

Holger Lehmann (Archivfoto)

Nun liegt wie auf der Hinfahrt alles in Holgers Händen. Seine Gewinnstellung nach der Eröffnungsphase hatte er verspielt und muss nun ein Endspiel mit einer Qualle wenigstens Remis halten. (Diagramm links). Die Zeitressourcen von Matthias Tonndorf und ihm sind aufgebraucht, beide leben nun 50 Züge lang vom Inkrement. Nerven wie Stahlseile sind gefragt. Zunächst gelingt es Holger, den letzten Bauern seines Gegeners zu eliminieren und damit das Material auf Turm und Läufer gegen Doppelturm zu reduzieren. (Diagramm rechts).

Wer glaubt, dass damit alles entschieden ist, täuscht sich. Beide Seiten kämpfen verbissen. Als der Hamelner schließlich den Übergang in das Endspiel Turm gegen Läufer wählt, ist immer noch kein Ende in Sicht. Wer kennt die richtige Verteidigungsstrategie?
Im 52. Zug ist die Stellung laut Siebensteiner-Datenbank für den Hamelner gewonnen, im 63. Zug dann Remis. Holger kennt das Endspiel und bringt seinen König im weiteren Verlauf in einer Ecke in Sicherheit, die nicht der Farbe seines Läufers entspricht. Das geschieht im 99. Zug.  Durchatmen.

Nach 104….La7 setzt Weiß in vier Zügen matt.

Die Analysen zeigen, dass auch hier äußerste Genauigkeit erforderlich ist, denn kurz vor dem Remisschluss steht Holger plötzlich auf Verlust, doch niemand bemerkt das vierzügige Matt (Diagramm). Und dann kann endlich gejubelt werden. Der erste Helleraner Mannschaftssieg in der Oberliga gegen Hameln ist geschafft. Jubel pur, der sich nur aufgrund der Erschöpfung aller Beteiligten in Grenzen hält. Es ist bereits 18 Uhr und kaum jemand verfügt noch über Energiereserven. Seeschlangen sind schlimm genug, aber sie mit fast hängender Klappe zu spielen ist so, als wolle man mit einem leckgeschlagenen Boot den Atlantik überqueren.

Partien zum Nachspielen

Bitte auf den rechten Pfeil klicken, um ins Auswahlmenü zu gelangen!
Alternativer Nachspiellink

 

Die Einzelergebnisse

Die Tabelle
Quelle: Deutscher Schachbund

Die Rückfahrt verläuft sehr entspannt, der Erfolg lässt den Aufwand verkraften. Als ich um kurz nach 21 Uhr Duisburg erreiche, jubel‘ ich innerlich immer noch und verbiete mir Gedanken über die Sinnhaftigkeit dieses Hobbys.

Fotos: © 2023 Hellern-Archiv