Ivan Sokolovs Buch „Ivan’s Chess Journey – Games and Stories“

Gibt es Gründe, die dafür sprechen, Ivan Sokolovs neues Buch „Ivan’s Chess Journey“ zu lesen? Der Großmeister mit bosnischen Wurzeln, nun beheimatet in den Niederlanden, gehört längst nicht mehr zu Weltspitze. In großen Turnieren taucht er selten auf. Zudem verrät er fortgeschrittenen Anfängern und normalen Amateuren nicht, wie sie über Nacht dank neuer Strategien zu Schachgiganten werden. Es gibt eine Reihe guter Gründe, „Ivan’s Chess Journey“ nicht anzufassen. Ich empfehle es dennoch. Und zwar nachdrücklich.

Unfassbare und mysteriöse Pleiten

Eins vorweg: Wer Sokolovs Buch mit dem Untertitel „Games and Stories“ lesen will, muss Englisch können. Aber keine Sorge. Ivan Sokolov ist kein Marcel Proust. Man muss also nicht befürchten, dass er stilistisch so brillant schreibt wie der durch die britische Upper Class geprägte Nigel Short. Mit ordentlichem Schulenglisch kommt man problemlos durch ein Buch, dessen Covergestaltung auf den ersten Blick etwas verstörend wirkt. Zu sehen ist dort das Konterfei des Meisters, das grell konturiert und irgendwie expressionistisch daherkommt. Blaue und weiße Schachfiguren übersäen das Gesicht mit dem traurigen Blick, einige stehen auf dem Kopf. Was soll es bedeuten? Schach als Obsession, oder gar als Krankheit?

Psychopathologisches ist aber nicht zu entdecken, wenn man das Buch aufschlägt. Sokolov lässt ein bewegtes Schachleben Revue passieren, auf dessen Höhepunkt er Garri Kasparov beim Corus-Turnier 1999 in 28 Zügen schlägt. Sechs Kasparov-Partien stellt der Autor vor, sein spektakulärer Sieg ist nicht dabei.
Bescheidenheit? Das zu beurteilen fällt schwer. Was Sokolov aber tatsächlich fehlt, ist Eitelkeit. Eine der ersten Partien in seinem Buch ist ausgerechnet eine krachende Niederlage gegen die Legende David Bronstein, 1987 im heute serbischen Pancevo. Der Autor präsentierte in der Partie eine Neuerung, die sein Trainer Velimirovic gefunden hatte. Die führte aber ins Nichts, der damals bereits um 100 ELO-Punkte schlechtere Schachtitan Bronstein erteilte dem aufstrebende Rookie eine Schachlektion zum Thema ‚schwache Felder’ und ‚schwache Bauern’.

Auch die nächste Partie im Buch endet mit einer Niederlage. Gleiches Turnier, anderer Gegner. Diesmal Efim Geller („…Efim Geller was already at an advanced age. Geller’s style however… did not change a single bit! Space, space and more space!“), der Sokolovs sizilianische „Igel“-Stellung beinahe überrennt, um dann – ausgerechnet! – im Endspiel die stärksten Karten auszuspielen. Und das, als eigentlich alles schon für ein Remis spricht. Hier haben wir bereits verdammt gute Gründe, um dieses Buch zu lesen.

Der Autor präsentiert nicht seine Geniestreiche, sondern fängt mit seinen Reinfällen an. Dies wird sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Häufig genug sind es Partien, die er ‚eigentlich‘ gewinnen musste. Hätte, könnte, eigentlich. Amateure kennen diese Worte. Eigentlich stand ich gegen X auf Gewinn. Oder: Ich weiß überhaupt nicht, wie ich dieses primitive Endspiel eigentlich verlieren konnte. Danach beerdigt man die Partie und spricht nicht mehr darüber.


Schauen wir uns ein Beispiel aus dem Kapitel „He should already have been Dead“ an: die Partie Sokolov – Van Wely (Pula 1997).

Diagramm 1: Van Wely spielte zuletzt 30…Kh8-g8 und hatte nur noch eine Minute, um die Zeitkontrolle im 40. Zug zu schaffen. Es wurde ohne Increment gespielt. Laut Sokolov war es offensichtlich, dass Schwarz in Kürze zusammenbrechen würde.

Diagramm 2: Van Wely war nicht zusammengebrochen und überstand die Zeitkontrolle mit einer Sekunde Restzeit auf der Uhr. „I was furious that the game was still on and this ‚lucky bastard‘ did make it to a time control“, erinnert sich Sokolov. Er zog wütend 41.Lg6?? Dagegen hätte das ‚simple‘ 41.f5 gewonnen.

Diagramm 3: Immer noch kämpft Sokolov um den vollen Punkt. Van Wely hatte zuletzt 64…a5! gezogen. Sokolov spielte 65.b5??, natürlich mit der Absicht, den Ba5 abzuholen. Dies war trotz der vom Autor verwendeten Fragezeichen kein fetter Fehler, sondern die aus seiner Sicht konsequente Anwendung der Regel ‚Turm und zwei verbundene Freibauern gewinnen ohne Unterstützung durch den König.‘ Stattdessen gewann auch hier ein ‚simpler‘ Zug. Und der Ausgang? Natürlich rettete sich Loek Van Wely. Nachspielen kann man das hier.

Über „einfache Endspiele“ erfährt man in Sokolovs Buch eine Menge, und nicht immer ist es schmeichelhaft für den Autor. Nicht nur als junger Meister, auch später widerfahren ihm immer wieder unfassbare und mysteriöse Pleiten. Daraus kann man lernen. Sokolov erklärt das Entgleiten einer Gewinnstellung in seinem Buch mit einem feinen Gespür für die psychologischen Notwendigkeiten einer Schachpartie. Wie kommt man in eine Partie zurück, die haushoch gewonnen war, dann aber durch die Finger glitt? Danach war sich der Rezensent sicher: Dieses Buch muss ich ganz lesen.


Humorvolle Reminiszenzen – aber Sokolov teilt auch aus!

Die mehr als 260 Seiten von „Ivan’s Chess Journey“ sind in elf Kapitel unterteilt. Sokolov beginnt mit seinen „Rookie Years“, interpretiert im zweiten Kapitel „Pre Computer Era“, wie mühselig es vor dem Aufstieg der Schachengines gewesen ist, kreative Neuerungen zu entwickeln und wirft in „Living Out of a Suitcase“ einen Blick hinter die Kulissen eines weitgereisten Profispielers.
Immer wieder streut Sokolov witzige Anekdoten ein, zum Beispiel darüber, dass konstruktive Analysen mit Jan Hein Timman nicht selten daran scheiterten, dass Timman ein exzellenter Weinkenner war und ist. Den Rest kann man sich denken.

Doch trotz dieser humorvollen Einlagen spürt man, dass es Sokolov nicht darum geht, den Leser zu bespaßen. Dafür sorgt der kritische, manchmal auch sarkastische Duktus des Buches. Etwa wenn der Autor über den Gewinn der Europäischen Mannschaftsmeisterschaft im Jahre 2005 berichtet. Sokolov war in den 1990er Jahren vor dem Bürgerkrieg in Jugoslawien ins holländische Exil geflüchtet und hatte die niederländische Staatsbürgerschaft angenommen. Als die siegreiche holländische Nationalmannschaft (Van Wely, Sokolov, Tiviakov, Timman, Van den Doel) aus Göteburg zurückkehrte, gab es auf dem Flughafen Schiphol einen Blumenstrauß.

„As it will turn out ‚beautiful flowers‘ remained our only ‚bonus‘ for this historic achievement!“ (92). Das habe ihm die die Augen für den sozialen Status des Schachspiels in den Niederlanden geöffnet.
Doch was hat Sokolov vermisst? Geld? Der Sarkasmus wurde Sokolov dann auch prompt von einigen Rezensenten übel genommen.
Auch ich musste beim Lesen schlucken, denn die „Hollandfahrer“ in unserem Verein haben jahrelang erlebt, welchen enormen Stellenwert Schach in den holländischen Medien und auch bei den Holländern selbst besitzt.

Auch sonst verzichtet Sokolov gelegentlich auf diplomatisches Understatement. Das fast 100 Seiten starke 6. Kapitel „Meeting World Greats“ widmet der Autor dem legendären Michail Tal, Vassily Smyslov, Boris Spassky, seinem Spezi Jan Hein Timman, Vishy Anand, Veselin Topalov, Vladimir Kramnik und Magnus Carlsen – Garri Kasparov fehlt ostentativ.
Sokolovs Rückblick auf die Nebenkriegsschauplätze der WCA-Weltmeisterschaft im Jahre 2000 mag vergessene Schachgeschichte sein, aber sein scheinbar übermächtiges Gerechtigkeitsgefühl kennt offenbar kein Vergessen. Wir erinnern uns: Es war jener Wettkampf, in dem Kramnik dem PCA-Weltmeister Garri Kasparov auch dank der unbezwingbaren „Berlin Wall“ mit 8½-6½ die Schachkrone entriss.

Dieser Wettkampf hätte jedoch nie stattfinden dürfen, so Sokolov. Qualifiziert für das Finale war Alexei Shirov, der zwei Jahre zuvor Kramnik klar geschlagen hatte. Pikant: Der Verlierer sollte 100.000 Dollar erhalten, der Sieger nichts – dafür durfte er zur Belohnung gegen Kasparov in den Ring steigen. Daraus wurde nichts. Kasparov entschied, aus kommerziellen Gründen gegen Kramnik zu spielen – und Shirov ging leer aus. Er erhielt nicht einen einzigen Cent, sondern war, so Sokolov, nach dem Hick-Hack finanziell ruiniert. Kramnik wurde indes neuer Weltmeister. Einen Rückkampf gewährte er dem unterlegenen Kasparov nicht.

2011 erklärte Kramnik dann in einem Interview, dass Shirov wohl ein Angebot über ein WM-Match mit Kasparov ausgeschlagen habe: das Preisgeld (600.000 US-Dollar) sei zu gering gewesen. Über die Rolle des smarten Turnierorganisators Luis Rentero erfährt man bei Sokolov nichts – Sokolov, so scheint es, lastet alles allein Kasparov an. So bleibt es dem Leser überlassen, ob er der Geschichtslektion des Autors Glauben schenkt oder alles nur als nette Anekdote konsumiert. Sicher gehört es nicht zu den Stärken des Buches, dass keine Zeitzeugen zitiert werden und belastbare Quellen fehlen.


Die Qualen des Endspiels – hilft uns Sokolov aus der Patsche?

Das Highlight des Buches findet man auf den letzten 70 Seiten. Dort warten Kapitelüberschriften wie das martialische „He should already have been Dead“, „Impossible to Lose“ und „Simple Endings“ auf den Leser. Ivan Sokolov outet sich dabei als Epigone Laskers: „I am a believer in the psychological connection between the two opponents and the chess game being a fight oft he two characters.“ (191). Und die Partien, die Sokolov zur Illustrierung dieser Schlachten präsentiert, bieten dem schachspielenden Leser einen imponierenden Benefit.

Ein hübsches Beispiel für die psychologische Dynamik zwischen zwei Spielern ist die Aufgabe einer Partie in Gewinnstellung: Chatalbashev (2535) – Sokolov (2690), Jakarta Indonesia op 2nd 2012.
Sokolov erinnert sich: „I thought ‚let’s give a mate in two’“. Und so zog er 45…h5?? Chatalbashev gab sofort auf. Das Matt auf g4 war nicht zu übersehen – und er glaubte dem Gegner. Dass ein Kiebitz danach arglos fragte, was denn nun nach 46.Txg6 passiert, ließ alle aus den Wolken fallen. Danach ist der Bauer h5 nicht gedeckt und somit gibt es auch kein Matt auf g4. Im Gegenteil: Weiß steht auf Gewinn. „Mutual Agreement“ nennt Ivan Sokolov dieses merkwürdige Phänomen.

Auch in Endspielen scheinen unsichtbare Fäden die Spieler zu verbinden. Siegesgewisse Erwartungen werden von verblüffenden Kontern durchkreuzt, gewonnen geglaubte Punkte lösen sich in Luft auf. Die profunden wettkampfpsychologischen Überlegungen Sokolovs sind allein schon ein Grund, um die letzten Kapitel seines Buches zu studieren.
Das hat auch einen ganz profanen Grund. Viele Vereinsspieler beschäftigen sich nur ungern mit den technischen Aspekten eines Endspiels. Einfache Turmendspiele wie T + B vs. T stellen vermeintlich unüberwindbare Hürden in den Weg, der Lernaufwand erscheint zu groß. Wenn man aber dann endlich mal gegen einen 400 Punkte stärkeren Gegner ein ‚einfaches‘ Turmendspiel nicht gewinnen kann, weil man den „Brückenbau“ nicht kennt, ist das für den betroffenen Spieler ärgerlich.

Noch abschreckender müssen dann erst recht komplexe Endspiele wirken, die auf jene elementaren Stellungen reduziert werden, die ein Großmeister natürlich locker abwickelt. Doch wie erreicht man solche Stellungen? Das kann auch gestandene 2700er in einer harten Wettkampfsituation überfordern. Sokolov führt dies an einigen handverlesenen Beispielen vor. Einfache Endspiele werden in ihnen zum puren Horror: „To me this was a terrible problem throughout my career.“

In Sokolov–Van Wely, Mannschaftskampf Groningen-Hilversum 2010, geschah Unheimliches:


56.Tf7!
(Aussperren des sK) 56…Ke4 57.g6 „Pawns must be pushed“ – eine Grundregel Sokolovs. 57…Ta1 58.Tf4? Verstoß gegen die Regel – es gewann 58.g7.
Nun ist die Partie Remis, aber dem Autor gelang es in weniger als zehn Zügen, die Partie zu verlieren.

Nachspiellink

 

Über 60 Seiten umfassen Sokolovs Kommentare zu gebräuchlichen Endspielen. Im 10. Kapitel „Simple Endings“ werden Bauern- und Springerendspiele, aber auch Damen- und Läuferendspiele beleuchtet. Besonders wichtig sind für den Autor Turm- und Turm-/Springer-Endspiele. Die meisten Beispiele sind allerdings alles andere als simpel.
Wer kann davon profitieren?
Auf jeden Fall alle Spieler, die elementare technische Stellungen einigermaßen beherrschen. In vielen Endspielen wird die Komplexität reduziert und am Ende muss man halt die „Lucena“-Stellung oder den „Brückenbau“ beherrschen. Andere Endspiele, zum Beispiel Läufer- oder Doppelläuferendspiele sind schwieriger und natürlich entscheidet in der Regel die Verteilung der Bauern über den Ausgang der Partie.

Mein Fazit: Voll umfänglich werden Landes- und Oberligaspieler von dem Buch profitieren. Aber auch Vereinsspieler im Bereich ELO 1700-1800 werden das Buch nicht mehr leeren Händen beiseitelegen. Regeln wie „Pawns must be pushed“ haben einen hohen Behaltenswert. Daran ändern auch die Ausnahmen von der Regel nichts. Sokolovs Buch bietet einiges dazu. Meine fast uneingeschränkte Empfehlung gilt also besonders den Kapiteln über die Endspiele. Sokolov verbindet dort vorbildlich technische und wettkampfpsychologische Aspekte.


Was nimmt man in die Hand?

Beim Durchblättern hatte ich ein gutes Gefühl. Das Layout des Buches ist luftig und zugleich spartanisch, aber immer übersichtlich. Das zweispaltige Buch ist im Blocksatz mit einer gut lesbaren serifenfreien Schrift in den Druck gegangen. Die in Schwarz-Weiß gehaltenen Diagramme strukturieren die Partieanalysen recht angenehm. Dafür sorgen auch die etwas kleiner gehaltenen Analysediagramme.
Das ist ein dickes Plus, denn im Zeitalter der Digitalisierung dürfte es zunehmend schwerer werden, abseits des professionellen Schachs Leser zu finden, die auf eng bedruckten Seiten kryptisch verschlungene Analysen lesen und auf dem Holzbrett nachspielen wollen. „Ivan’s Chess Journey“ arrangiert alles sehr übersichtlich. Leser können den Partien daher auch ohne Schachbrett folgen.
Dennoch: Es wäre zu begrüßen, wenn Schachverlage die Partien online anbieten würden und ihre Bücher mit dem benötigten Download-Code auszustatten.

Erschienen ist „Ivan’s Chess Journey“ bei „Thinkers Publishing“, einem im belgischen Gent ansässigen Verlag, der zuletzt beim VMCG-Schachfestival in Lüneburg als Sponsor in Erscheinung trat. Das Team um Daniel Vanheirzeele (Sokolov ist als Managing Editor beteiligt) hat bislang Bücher wie die über 350 Seiten starke „The Taimanov Bible“, „The Richter Rauzor Reborn“ oder „The Chess manual of Avoidable Mistakes“ (Vol. 1 & 2) auf den Markt gebracht. Für das verlagseigene Corporate Design sorgt u.a. der belgische Maler Philippe Tonnard.
Leider gibt es in dem Buch weder Stichwort- noch Namensverzeichnis und auch keine Partienliste. Dies trübt den positiven Eindruck aber nur unwesentlich. „Ivan’s Chess Journey“ ist die sehr persönliche Bilanz eines Großmeisters, der eine Menge erlebt hat und weiß, dass man am meisten durch Fehler lernt.

272 Seiten, 66 Partien, 5 Musterstellungen (Endspiel). Eine Datenbank mit den Partien können Vereinsmitglieder bei der Redaktion bestellen.

Quellen:

Beitragsfotos: Thal