Sinn und Unsinn im Schachtraining
Willy Hendriks ist ein Ketzer. Auf 256 Seiten erklärt er in seinem Buch „Erst ziehen, dann denken“ dem verdutzten Leser, dass all das, was kluge Schachtrainer und umfangreiche Lehrbücher behaupten, völliger Unsinn ist. Richtige Züge findet man nicht, weil man es versteht, die Merkmale einer Stellung zu erkennen. Nein, man findet sie, indem man sie sieht und zieht. Alles andere ist Gewäsch. Und dafür hat er 2014 sogar von der Englischen Schachföderation (ECF) den Preis für das beste Schachbuch des Jahres erhalten. Eine Ohrfeige.
Sie haben sofort gesehen, was der Königszug wert ist? Gut. Dann lesen Sie nicht weiter.
Vor einigen Jahren fragte mich ein Schachspieler mit ca. 1650 DWZ, was zu tun sei, um auf 1800 zu kommen. Ich antwortete, dass dies kaum möglich sei, da er schon einige Jahrzehnte lang aktiv spielen würde. Aber er könne es damit versuchen: Mindestens zwei Stunden pro Tag trainieren und mindesten 50 schwere Turnierpartien pro Jahr spielen. Wie er trainieren sollte, darüber schwieg ich.
Wie man trainieren muss, darüber haben viele Großmeister und Trainer kluge Bücher verfasst. Jeder hat da so seine Methode. Man liest mit viel Freude ein Buch nach dem anderen, versteht auch viel – und dann macht man wieder die falschen Züge. Und was am schlimmsten ist: Man bleibt bei 1650 stehen, und wenn man dann älter wird, rauscht auch diese Zahl ins Bodenlose.
Kein Wunder, behauptet der holländische IM Willy Hendriks. Denn alle schlauen Bücher und all die klugen Trainer, die sich damit beschäftigen, die mediokre Spielstärke von Amateuren aufzurüsten, gehen nach unumstößlichen Prinzipien vor. Sie unterteilen eine Schachpartie in feste Abschnitte: Eröffnung, Mittel- und Endspiel. Dann untersucht man diese Partiephasen und geht zu einer Art von Feindifferenzierung über, wobei möglicherweise über offene Linien, Vorposten und schwache Felder doziert wird. Auch taktische Motive lassen sich feinsäuberlich in Schubladen packen: vom obligatorischen Opfer auf h7 bis zum komplizierten Enteropfer lernt der Zögling alles, was er wissen muss – und was er dann schleunigst vergisst, um in der nächsten Partie dann wieder wie der Ochs vorm Berge zu stehen. Das wäre ja alles nicht so schlimm, wenn es da nicht dies Kinder gäbe,
die mit 12 Jahren irgendwo bei einer DWZ von 1200 herumkrebsen, um dann in den nächsten Jahren mit einer Affengeschwindigkeit an den Altvorderen vorbeirasen. Mit 15 Jahren schlagen sie irgendwo bei ELO 2200 auf und machen sich anmaßende Gedanken über den FM-Titel. Und dabei können die nicht mal vernünftig erklären, warum sie dies oder das gezogen haben! Sie haben es einfach gesehen! Ich stimme den Altvorderen zu: Dies ist nicht nur eine Frechheit, nein, es ist unverschämt, vorlaut und dreist. Gut, es gibt schätzungsweise 2 Millionen qualifizierte Hirnforscher, die einem erklären können, warum die Kids vor der Pubertät so schnell lernen. Aber mal im Ernst: wer will schon wissen, wie Plastizität und Umstrukturierung von neuronalen Netzwerken in einem Kinderhirn im Einzelnen abläuft? Ironie Ende.
Das Dogma der respektablen Ordnung
Auch darüber und wie unser Denkorgan funktioniert, weiß Hendriks eine Menge zu berichten. Dazu muss man besondes aufmerksam die zweite Hälfte des Buches lesen. Im ersten Kapitel von „Erst ziehen, dann denken“ steckt aber bereits die ganze Programmatik des holländischen IM, der übrigens auch Philosophie studiert hat (was beim Schach aber garantiert nicht hilfreich ist). Hendriks beschreibt mit viel Sprachwitz und erstaunlichen Partiebeispielen, was uns bremst. Exemplarisch zitiere ich den herrlichen Hergang einer Trainingseinheit mit Kids, die Hendriks im ersten Kapitel beschreibt. Diskutiert wird folgende Stellung aus Balashov – Sunye Neto, Wijk aan Zee (1982):
Der (fiktive) Trainer fragt: „Paul, hast Du eine Idee?“ Paul: „Äh, ja, ich würde Tc6 spielen, und wenn er den Turm schlägt, habe ich Sd5.“
Trainer: „Ja, Du kommst gleich mit Zügen daher. Gehen wir aber zurück zu den Stellungsmerkmalen; kannst Du dazu etwas sagen?“
Resümieren wir. Paul hat den richtigen Zug ‚gesehen.’ Aber Paul hat ihn auf die falsche Weise gefunden!
Neto gab übrigens nach Tc6 sofort auf. Nachspiellink.
Willy Hendriks weiß daher genau, woher der ganze Ärger kommt: Wir haben auf diese Weise gelernt, dass man einen Plan braucht, um einen guten Zug zu finden! Nur scheint dies nicht immer zu funktionieren.
Willy Hendriks nennt dies das „Dogma der respektablen Ordnung“. Es basiert unter anderem auf einer weiteren „abscheulichen Idee“, nämlich der Illusion, dass Trainer mit sprachlichen Regeln Anleitungen geben können, die dem Zögling mustergültig vorgeben, wie er den richtigen Zug vernünftig ableitet.
Hört sich gut an, oder? Ist aber Bullshit, meint Hendriks. Die offizielle Lehre lautet also: Man untersucht die Merkmale einer Stellung und analysiert (natürlich sorgfältig und strukturiert!) alle Schwächen und Stärken. Aus diesen Erkenntnissen werden mögliche Strategien abgeleitet – deduktiv nennt man so was. Dann entwickelt man einen Plan. Hat man den Plan, dann leitet man aus diesem die möglichen Kandidatenzüge ab. Am Ende entscheidet man sich für einen Zug. Bingo.
Das ist nicht Hendriks Ding und so dekonstruiert er immer wieder Bücher, die auf pedantische Weise zu semantischen und schachlichen Verdauungsstörungen führen. Ein Satz wie „Ein Bauernvorstoß am Flügel sollte mit einer Aktion im Zentrum beantwortet werden“ ist seiner Meinung nach genauso sinnfällig wie der Satz „Nach einem gegnerischen Bauernvorstoß am Flügel sollte man ruhig bleiben und nichts Verrücktes unternehmen.“ Nur am Rande: statistisch lässt sich die Regel vom Gegenschlag im Zentrum übrigens nicht belegen.
Was ist also zu tun? Hendriks gibt auf typisch amüsante Weise dem bereits nach den ersten Seiten leicht erschütterten Leser den einfachen Rat, in Schachbüchern bloß nicht den Text zu lesen, sondern sich dort nur mit den vorgestellten Stellungen zu beschäftigen. Wie gesagt: der Mann ist ein Ketzer.
Man zieht erst – hinterher erklärt man seinen Plan
Trotzdem bleibt die Gretchenfrage: Wo kommen die guten Züge her? Glaubt man Hendriks, dann spielt dies angesichts der Orthodoxie der konventionellen Trainingsmethoden beinahe keine Rolle mehr. Richtig ist die Deduktion, weil sie prinzipiell ist. Folgt man ihr, handelt man auf jeden Fall nicht falsch, schließlich hat man sich ja an die Regeln gehalten. Partieanalyse als Liturgie. Ein ehrenwerter Kanon der Handlungsplanung. Und der Schachtrainer kassiert sein Honorar und kann einem nicht erklären, warum die tolle Deduktion bei der nächsten Partie
seines Schützlings wieder einmal völlig in die Hose gegangen ist. Tatsächlich funktioniert Schach anders, so Hendriks. Die Denkphasen während einer Partie sind ziemlich chaotisch, alles passiert gleichzeitig, man bastelt an Zügen herum, bricht Analysen ab und wurstelt sich durch.
Und wenn man mal einen guten Zug findet, dann geschieht dies, weil man ihn bereits früher gesehen hat und man sich plötzlich an das Motiv oder das Muster erinnert!
Alles andere kommt hinterher. Man sieht einen guten Zug und zieht ihn. Und hinterdrein erklärt man, zum Beispiel seinen staunenden Mannschaftskameraden nach dem heroischen Sieg, warum man so gezogen hat. Dann tauchen dann all die schönen und schillernden Begriffe auf, die man uns eingeimpft hat: Ja also, das Feld g6 war nach h7-h6 irgendwie schwach, deshalb Sxe6, was g6 schwächt, der Gegner nimmt mit dem f-Bauern und dann kann ich mit der Dame nach g6 und es droht Lxh6 nebst Matt, weil der schwarzfeldrige Läufer nutzlos am Damenflügel herumsteht, was mir gleich zu Anfang als positionelle Schwäche aufgefallen ist.
Da sind sie also, alle fein säuberlich abgeleitet: die Schwächen in der gegnerischen Rochadestellung und auf den schwarzen Feldern, die fehlende Figurenkoordination, das Zertrümmerungsopfer, der Schlüsselzug und das unabwendbare Matt. Dabei hat sich unser Held einfach nur an etwas erinnert, was er auf ähnliche Weise schon mal gesehen hat. Und hinterher tut er so, als habe er alles vernünftig abgeleitet. Hendriks bezeichnet dies als „Rückschaufehler“.
Bei der Betrachtung einer Stellung sieht man, was man bereits weiß
Diese typisch menschliche Eigenart führt dazu, dass die Pläne meistens erkannt werden, nachdem man gezogen hat. Und die Stellungsmerkmale erkennt man sowieso erst dann, wenn man den richtigen Zug gespielt hat. Oups. Aber wie findet man den? Im Wesentlichen, so Hendriks, ist Schachspielen Mustererkennung. Man zieht, was man weiß und was man kennt. Und alles andere ist Rhetorik.
Hendriks Kritik ist aus zwei Gründen nachvollziehbar. Erstens: Wird dem Spieler von einem Trainer eine Stellung unter Hinweis auf ein planvolles Vorgehen erklärt, kommt der Lernende häufig in den Genuss des Verstehens. Nachdem er die richtigen Züge gesehen hat. Bloß bedeutet Verstehen nun eben nicht, dass man sich in einer ähnlichen Stellung auch daran erinnert, was man vor drei Monaten mal verstanden hat. Alles dreht sich also um Behaltenseffizienz und Hendriks Buch ist auch deshalb so bemerkenswert, weil der Internationale Meister sich als vielseitig gebildeter Autor erweist, der durchaus sehr elegant zwischen Philosophie und Gehirnforschung unterwegs ist (ohne dass man pausenlos Bahnhof versteht) und der genau verstanden hat, was ein gutes Gedächtnis für einen Schachspieler bedeutet.
Zweitens: Die meisten guten Züge, das sollte einem zu denken geben, fallen einem tatsächlich ad hoc ein. Sonst würden die meisten Blitzpartien auch wie elendes Gestümpere aussehen. Warum sollte man also nicht dem trauen, was man sieht? Immerhin hat schon Capablanca gesagt: „Wenn Sie einen guten Zug sehen, spielen Sie ihn!“
Das scheint plausibel zu sein. Magnus Carlsen hat einmal lapidar festgestellt, dass er meistens sofort weiß, was zu tun ist, dann aber der guten Ordnung halber noch nachrechnet, ob seine Intuition auch stimmt. So ticken auch andere Meister.
Ich habe vor einem Jahr mal unseren lieben Carsten nach seiner Meinung über ein Endspiel gefragt, das einer seiner Mannschaftskameraden gerade auf dem Brett hatte. Dabei überfiel ich ihn mit einem Schwall von Fachbegriffen, die alle darauf hinausliefen, dass ich etwas ‚hinlenken’ und ‚weglenken’ wollte, um einen entfernten Freibauern freizuschaufeln, der so viel Kräfte binden sollte, dass ich auf der anderen Bretthälfte bequem meine Mehrheit zur Dame führen könne.
Carsten zuckte nur mit den Achseln: „Das ist mir alles zu kompliziert. Ich glaube, hier spielt man einfach xyz.“ „Wieso?“, fragte ich. „Das sieht man doch“, erwiderte Carsten. Oder so ähnlich.
Ich habe das dann zuhause mit Komodo überprüft. Carsten hatte natürlich Recht. Seine Idee war unverschämt einfach, pragmatisch und zielführend. Meine funktionierte auch, allerdings hätte man dabei einige technische Klippen umschiffen müssen, an denen ich garantiert zerschellt wäre.
Ich möchte das Problem dem Leser an einem haarsträubenden Beispiel aus Hendriks Buch vorführen. Es stammt aus dem 19. Kapitel „Quantität ist auch eine Qualität“:
Hendriks hat diese Stellung mit Houdini analysiert und die Engine präsentierte hier auf Anhieb den Zug 0-0.
Wie will man solche Züge aus allgemeinen Regeln der Stellungsbeurteilung ableiten?
Nun, ich bin mir fast sicher, dass zum Beispiel Hajo oder Franz, die sich mit der Philidor-Verteidigung herumgeschlagen haben, möglicherweise einen Zugang zu der Lösung haben. Und falls Sie das auch sehen, dann klicken Sie nicht auf den Nachspiellink.
„Move first, think later“ lautet Willy Hendriks Buch im Original. Dies mag eine Provokation sein. Es ist aber auch ein Credo. Etwas anarchistisch, aber bedenkenswert. Im Prinzip bezweifelt Willy Hendriks einfach nur, dass wir pausenlos als rationale Akteure auftreten können, tatsächlich aber eigentlich nie so richtig verstanden haben, wie wir ticken, wenn wir über eine Stellung nachdenken. Also sollten wir über möglichst viele Stellungen nachdenken. Und beim nächsten Spiel wird einem sicher das eine oder andere auch einfallen.
Ich denke nicht, dass Hendriks eine Kopernikanische Wende im Schach lostreten will. Wie alle interessanten und kreativen Menschen ist er anti-dogmatisch und bei der Ausführung seiner Ideen auch ein wenig chaotisch. Mit anderen Autoren geht er witzig um, auch wenn er sie nicht mag. Immerhin kann er dies oder das empfehlen, etwa John Watsons „Secrets of Modern Chess Strategy“ oder Alex Yermolinsky „The Road to Chess Improvement“. Sie alle beachten das „Diktat des Konkreten“: Analysiere Deine eigenen Partien, befasse Dich mit konkreten Stellungen und vergiss die Allgemeinplätze aus klugen Büchern.
Ob Hendriks dem 1650er dabei helfen könnte, die 1800 zu erreichen, weiß ich nicht. Ich habe da so einige Zweifel. Hendriks auch. Er deutet an, dass die angeborenen Hirnstrukturen die spätere Spielstärke maßgeblich festlegen: Man wird quasi als 1650er geboren. Was auch bedeutet, dass man mit viel Fleiß noch 100 Punkte draufsatteln kann. Wer aber die ‚passenden’ neuronalen Netzwerke besitzt, rauscht als sogenanntes Talent einfach so durch – üben muss er trotzdem.
Und wie geht das? Die berühmten Polgar-Schwestern haben das Schachspielen u.a. dadurch erlernt, dass sie abertausende Stellungsdiagramme vorgesetzt bekommen haben und diese lösen mussten. Später haben sie dann dicke und schwere Bücher geschrieben. In denen gab es außer Stellungsdiagrammen nur die Auflösungen am Ende des Buches zu lesen. Sonst nix.
Optisch hat das kompakte Buch des holländischen Schachtrainers einen sehr erfreulichen Look. Willy Hendriks setzt seine Ideen mit einer Reihe von Stellungsdiagrammen um, die es am Ende der Kapitel zu lösen gilt. Damit man wenigstens etwas lernt, kommentiert er süffisant. Dass diese Stellungen nicht einfach nur mit der richtigen Zugfolge kommentiert werden, sondern meistens auch eine Anekdote folgt, steigert den Unterhaltungswert dieses Buches genauso wie die Typografie und das gut überschaubare Layout. Es gibt in der Regel nur Varianten 1. Grades, man kann also alle Diagrammstellungen und die Varianten bequem während der Lektüre durcharbeiten. Ein Schachbrett wird nicht benötigt. Die Kindle-Version bietet zudem eine Verlinkung der Stellungen zu jenen Textpassagen, in denen sie ausführlich erläutert werden. Das gilt übrigens auch für das ausführliche Namensverzeichnis, das komplett aus Hyperlinks besteht. Das Literaturverzeichnis zeigt last but not least, dass Willy Hendriks eine hommes des lettres ist, der António Damásios „Descartes’ Irrtum“ gelesen und seinen evolutionsbiologischen Ansatz wohl bei Daniel Dennett gelernt hat.
Es gibt also einige handfeste Gründe, um sich „Erst ziehen, dann denken“ zu kaufen.
- Erstens: Das Buch ist relativ billig (wenn man einen KINDLE hat, ist man mit ca. 11 Euro dabei).
- Zweitens: es macht Spaß, und früher, als ich die Klassiker von Kmoch und Nimzowitsch gelesen habe, gab’s nie was zu lachen. Bei Willy Hendriks kommt man aus dem Grinsen nicht heraus.
- Drittens: Hendriks zeigt, dass man mit einer wissenschaftlich fundierten Didaktik möglicherweise weniger erreicht als mit dem Vertrauen in die Querschläger, die unsere komplizierten neuronalen Netzwerke bei guter Laune und ordentlicher Tagesform ausspucken. Einfach so. Ohne große Erklärung. Erst ziehen, dann denken. Ein tolles Buch.